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Seit zwei Jahren ist Paul Zübli Rektor der Kanti Wettingen. Warum es anfangs im Kollegium Unmut gab, wieso zu viel Druck kontraproduktiv ist und weshalb an seiner Kanti wenig Schüler rausfliegen.
Der Ort, den Paul Zübli für den Fototermin auswählt, liegt auf der Hand: Wir gehen zur neuen Dreifachsporthalle, die in ein paar Tagen offiziell eröffnet wird. Später im Gespräch wird sich zeigen, dass die Sporthalle nicht nur Auswirkungen auf den Sportunterricht haben wird. Das Gespräch mit dem 50-jährigen Rektor der Kanti Wettingen findet danach in einem kühlen Zimmer im ehemaligen Kloster und Lehrerseminar statt. Wie sein Amtskollege Daniel Franz in Baden hat Zübli den Rektoren-Job vor zwei Jahren übernommen. Im Unterschied zu Franz war Zübli aber zuvor schon während zweier Jahre Prorektor an seiner Schule. «Und doch kenne auch ich das Gefühl sehr gut, von aussen zu kommen und dadurch am Anfang auch kritisch begutachtet zu werden», sagt Zübli. Denn für den Posten als Kanti-Rektor – Vorgänger Kurt Wiedemeier ging nach elf Jahren in Pension – hätten sich auch Bewerber interessiert, die schon länger an der Kanti Wettingen tätig waren.
Dass Zübli überhaupt in der Bildung gelandet ist und heute Rektor einer Schule mit rund 1100 Schülerinnen und Schülern ist, hat sich am Anfang seiner schulischen Karriere noch nicht abgezeichnet. Nach der Matura Typus C (Mathematik und Naturwissenschaften) am Gymi Rämibühl in Zürich studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Uni Zürich. «Doch je näher der Uni-Abschluss rückte, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich im Grossraumbüro nicht glücklich werde.» Immer mehr habe er sich für Kunst zu interessieren begonnen. «Ich war zwar lange der Meinung, ich hätte in gestalterischen Dingen überhaupt kein Talent, ehe mich ein Leiter eines Modellierkurses davon überzeugte, das zu machen, was ich wirklich will.» Nach Abschluss des Studiums habe er dann tatsächlich Aufnahme im Vorkurs an der Kunstgewerbeschule gefunden. «Die fünf Jahre während der Ausbildung waren finanziell schwierig; ich habe mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten», blickt Zübli zurück.
Seine erste Stelle habe ihn nach Ftan GR ins Hochalpine Institut geführt, wo er als Zeichnungslehrer und als Assistent des Direktors tätig war. Bald habe er aber – mit Blick auf seinen weiteren beruflichen Werdegang gemerkt, dass Lehrer im Bereich Wirtschaft und Recht gefragter waren als Lehrer für Bildnerisches Gestalten. «Deshalb habe ich dann noch das Handelslehrerdiplom erlangt und an der Kanti Zug eine Stelle als Wirtschaftslehrer angetreten.» Während den zehn Jahren in Zug habe er immer mehr Schulentwicklungsaufgaben übernommen und gemerkt, dass ihn das interessiere. «Das führte mich – nach diversen Absagen – an meine nächste berufliche Situation. Ich wurde Prorektor an der Berufsschule für Gestaltung in Zürich. Doch lange hielt es Zübli nicht in Zürich. «Ich musste feststellen, dass der Gestaltungsspielraum an einer Mittelschule grösser ist als an einer Berufsschule. So kam es, dass ich mich zuerst erfolgreich als Prorektor an der Kanti Wettingen und später als Rektor bewarb.»
Heute lebt Zübli mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern – beide besuchen die Kanti Wettingen – in Windisch und fährt, wenn es das Wetter zulässt, mit dem Velo zur Arbeit. «Es ist ein riesiges Privileg, diese Schule mit ihrer langen Geschichte und in dieser wunderbaren Umgebung führen zu dürfen.»
Heute könne er festhalten, dass er von seinen Kollegen «herzlich getragen» werde. «Doch der Anfang war nicht einfach», gibt er offen zu. «Das lag einerseits daran, dass ich trotz meiner zwei Jahre als Prorektor einer von aussen war. Anderseits habe ich eine – bereits vorher aufgegleiste – Arbeitszeiterfassung eingeführt. Ziel war es, die Lehrer vor zu viel Überzeit zu schützen, doch viele empfanden die Massnahme als Kontrolle und Ausdruck von Misstrauen.» Er könne gut nachvollziehen, dass diese Massnahme anfangs nicht auf Begeisterung stiess, «sind doch alle Lehrer hier mit grosser Leidenschaft und grossem Einsatz an der Arbeit».
Er habe sich das Vertrauen und die Wertschätzung seiner Kollegen hart erarbeiten müssen. «Das ist mir gemeinsam mit meinem Schulleitungsteam gelungen, indem wir eine Wertediskussion geführt haben.» Es sei darum gegangen, herauszufinden, welches die wichtigsten Werte sind und welche unserer Werte sich decken. Dabei habe sich das Wohlbefinden als zentral herauskristallisiert. «Verstehen Sie mich nicht falsch. Auch wir wollen Leistung und Erfolg, aber nicht zu jedem Preis. Vielmehr sind wir der Überzeugung, dass dies nur möglich ist, wenn sich sowohl Lehrer wie auch Schüler wohlfühlen«, so Zübli. Das habe auch etwa zur Erkenntnis geführt, dass man zum Beispiel beim Thema Digitalisierung nicht bei allen Lehrern das gleiche Tempo verlange. «Natürlich ist das das grosse Thema in naher Zukunft. Aber es ist auch ein Thema, dem nicht alle Lehrer gleich offen gegenüberstehen.» Zübli selber glaubt, dass aufgrund der Digitalisierung die Rolle des Lehrers als Wissensvermittler immer mehr in den Hintergrund rücken wird. «Der Lehrer muss den Schülern vielmehr helfen, Kompetenzen zu entwickeln, wie sie unter der Flut der überall zugänglichen Informationen die richtigen Information finden und herausfiltern können.»
Die Kantonsschule Wettingen wurde 1976 gegründet. An der Kantonsschule kann sowohl das Gymnasium als auch die Fachmittelschule besucht werden. Die Kantonsschule nutzt die Gebäude des ehemaligen Klosters Maris Stella, welches 1841 geschlossen und in ein Lehrerseminar umfunktioniert wurde. Weitere Schulräume befinden sich rund um das Kloster, unter anderem auch in der alten Spinnerei an der Limmat. Heute besuchen knapp 1100 Schülerinnen und Schüler die Schule. Rund 160 Lehrerinnen und Lehrer arbeiten an der Kanti, in der Verwaltung und im Betrieb nochmals gut 30 Personen.
Der Spardruck im Kanton sei natürlich auch an der Kanti Wettingen ein Thema: «Jammern bringt nichts. Wir setzen uns vielmehr und trotz Sparen für ambitionierte Bildung unserer Schüler und gute Arbeitsbedingungen unserer Lehrer ein. Und letztlich gehört es halt zu meinem Job, die Sparmassnahmen umzusetzen.»
Und doch bereitet Paul Zübli der Spardruck Sorgen. «Bildung, Forschung und wenn man so will auch Kultur sind die Eckpfeiler unseres Wohlstandes. Wir sollten alles daransetzen, das hohe Niveau von heute zu halten.» Ein Problem seien etwa die grossen Lohnunterschiede zwischen den Kantonen – und das nicht nur beim Lehrpersonal. «Weil wir zum Beispiel deutlich tiefere Löhne zahlen als im Kanton Zürich, fällt die Rekrutierung oft schwerer.»
Umgekehrt sei es ihm aber auch schon gelungen, Lehrer von Zürich zurück nach Wettingen zu holen, «weil die Kanti Wettingen einen sehr guten Ruf geniesst». Immerhin gebe es jetzt Anzeichen, dass die Bevölkerung langsam aber sicher nicht mehr bereit sei, weitere Sparbemühungen in der Bildung mitzutragen.
Von wegen Ruf: Es ist auffällig, wie oft Wettinger Kanti Schüler bei Wissenschaftsolympiaden Medaillen holen. Da und dort hört man deshalb auch, die Kanti Wettingen setze alles daran, zu einem Elite-Gymi zu werden. Die Antwort von Zübli kommt schnell und fällt überraschend offen aus: «Ja, wir wollen eine Highclass-Kanti sein und das nicht nur in den Bereichen Kunst und Musik (70 Prozent aller Wettinger Schüler spielen ein Instrument), sondern vor allem auch in der Wissenschaft.» Das Begabtenförderungsprogramm sei deshalb eminent wichtig. «Wir wollen den Schülern das geben, was sie brauchen und besondere Begabungen und Talente fördern.» Besteht dabei nicht die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft innerhalb der Kanti respektive das Risiko, dass die weniger Begabten nicht mitkommen? «Sie sprechen damit mich an», sagt Zübli lachend.
Er selber sei – auch weil der Sport einen hohen Stellenwert genossen habe – eher ein Durchschnitts-Kantischüler gewesen. «Nein, wir sind eine Kanti, an der sich alle Persönlichkeiten entwickeln können.» Noch viel mehr: «So wie wir gezielt besondere Begabungen fördern, so unterstützen wir Schüler bei Schwierigkeiten und bieten zum Beispiel Repetitionskurse an.» Das erkläre auch, weshalb an der Kanti Wettingen so wenige Schüler rausfliegen würden. «Es ist manchmal unumgänglich – und das sage ich auch als Vater –, dass Schüler einen gewissen Druck erleben. Gute Leistungen werden aber nicht durch Druck erzeugt. Zu viel Druck ist schlecht; ja sogar kontraproduktiv.» Er begebe sich so oft als möglich nach draussen und mische sich unter die Schüler. «Dort sage ich jedem einzelnen ‹Grüezi› und will damit zum Ausdruck bringen, dass jeder einzelne Schüler hier willkommen ist, unabhängig von seinem Notenschnitt.»
Apropos Note: Die Diskussion um Maturitätsquoten hält Zübli für eher müssig. «Natürlich müssen wir uns fragen, wie wir eventuell noch mehr junge Menschen ins Gymnasium holen können, die Potenzial hätten.» Aber letztlich bestimme der Arbeitsmarkt darüber, wie viele Jugendliche die Kanti absolvieren und anschliessend den akademischen Weg einschlagen würden.
In den nächsten Jahren soll die Kanti Wettingen von heute rund 1100 Schüler auf rund 1300 wachsen. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Nach der Eröffnung der Dreifachsporthalle stünden fünf Sporthallen zur Verfügung. «Um diese Infrastruktur und die damit verbundenen Investitionen optimal zu nutzen, drängt sich ein Ausbau von heute 49 auf 55 Abteilungen auf», sagt Zübli. Weil man gleichzeitig die alte Sporthalle im Westflügel nicht mehr brauche, könne man dort zusätzlichen Schulraum erstellen. Bis 2025 soll dieser zusätzliche Schulraum zur Verfügung stehen. «Dadurch können wir einen Teil der zusätzlich zu erwartenden Schüler aus der Region aufnehmen.» Dass in Frick und im Raum Brugg/Lenzburg dereinst zwei neue Kantis entstehen könnten, findet Zübli gut: «Das hilft auch uns. Denn wir sind jedes Jahr zu rund zehn Prozent überbucht; sprich wir können nicht alle Schüler aufnehmen, die zu uns kommen wollen. Zwei zusätzliche Kantis würden uns etwas entlasten.»
50 Jahre ist Zübli jetzt alt; sein beruflicher Werdegang gezeichnet durch regelmässige Wechsel. Wie lange hält es ihn noch in Wettingen? «Ich habe nie einen Karriereplan gemacht. Jetzt bin ich Rektor hier an der wunderschönen Kanti Wettingen, das will ich schon noch ein wenig auskosten. «Unserer familiärer Campus ist einfach einmalig. Hier findet man einerseits die Ruhe, um Spitzenleistungen zu erbringen, andererseits aber auch, um einfach zu chillen.»