Porträt
Wirtin Agnes Heuer: «Die Beiz war meine Stube»

Nach 39 Jahren und 3 Monaten serviert Wirtin Agnes Heuer im «Weissen Kreuz» in Mellingen zum letzten Mal «Aigle», «Füürtüüfeli» und Zwetschgenluz.

Erik Schwickardi
Drucken
Beliebt und bescheiden: Wirtin Agnes Heuer wirtete 39 Jahre und 3 Monate im «Weissen Kreuz» in Mellingen. «Früher kamen keine Frauen in die Beiz.»

Beliebt und bescheiden: Wirtin Agnes Heuer wirtete 39 Jahre und 3 Monate im «Weissen Kreuz» in Mellingen. «Früher kamen keine Frauen in die Beiz.»

Solothurner Zeitung

«Kann’s im Leben Schöneres geben, als bei Agnes eins zu heben?» steht fein säuberlich in altgotischer Schrift an der Wand über dem Tresen, wo Wirtin Agnes Heuer (66) gerade zwei Einerli «Lutry» einschenkt. In der hellgrün-weiss gestrichenen Gaststube an der Mellinger Hauptgasse hat sich seit 40 Jahren kaum etwas verändert. «Nur die Lampen haben wir mal ausgewechselt, weil sich die Leute immer den Kopf angeschlagen haben», lächelt die Wirtin.

Stünde im gemütlichen Wirtsstübli nicht ein TV-Gerät, könnte man meinen, die Zeit sei irgendwo in den 50er- oder 60er-Jahren stehen geblieben. In den roten Plastikchörbli schlummern Biberli, Kägi-Fretli und Paprika-Chips. An der Wand zeigen alte Fotos und Bilder, wie das Reussstädtchen einst aussah. «Früher nannte man solche Wirtschaften ‹Chnelle›, lacht Wirtin Agnes Heuer. Das «Weisse Kreuz» ist also kein Lifestyle-Lokal, wo auf übergrossen viereckig-geschwungenen Tellern zwei Kugeln Papaya-Mousse mit Sternfrucht-Deko serviert werden. Hier, hinter schweren, wenig einladenden Gardinen, gibt es nicht mal Tischtücher. Dafür ein günstiges und gutes Menü mit Suppe, Salat, dazu Braten mit Herdöpfelstock, Spiessli mit Pommes frites oder Ghackets mit Hörnli.

Kundschaft aus allen Schichten

Vom Clochard bis zum Bankdirektor sitzen alle an den Holztischen und werden freundlich und persönlich bedient. Am Stammtisch geht es familiär zu, und man redet, «wie eim de Schnabel gwachse esch», trinkt ein Zweierli «Birmenstorfer» oder «St. Saphorin» und isst die berühmten «Füürtüüfeli», wie die gut gewürzten Rauchwürste hier heissen.

Aufgewachsen ist Agnes Heuer zusammen mit acht Geschwistern auf einem Bauernhof in Eggenwil im Reusstal. «Wir waren sechs Meitli und zwei Buben und haben bis heute einen guten Kontakt zueinander», erzählt sie. «Als ich in der ersten Klasse war, starb der Vater. Wir mussten alle auf dem Feld anpacken, trotzdem ‹sind alli recht usecho›.» Mit
19 sprach sie der Bremgarter «Waldheim»-Wirt an: «Du muesch go serviere!», im «Hirschen» Obfelden sei eine Stelle frei.

«Ich wollte das gar nicht – ich hatte doch keine Ahnung, was ein Bier oder ein Kafi kostet. Wir waren doch nie in der Wirtschaft.» Nach einigem Zögern sagte sie zu – unter der Bedingung: «Wenn es mir nach einer Woche nicht passt, geh ich wieder.» Doch der jungen Eggenwilerin gefiel es in der Gastronomie, später wechselte sie ins Restaurant Wolfsbächli nach Zürich. Hier verkehrten Schauspieler wie Margrit Rainer, Ruedi Walter, Stephanie Glaser, Ueli Beck, Rudi Carell oder Rennfahrer Jo Siffert. «Wenn ich viel zu tun hatte, halfen mir Elisabeth Schnell und Stephanie Glaser beim Abwaschen», erinnert sich die «Chrüüz»-Wirtin. «Und Rudi Carell qualmte wie ein Chemi.» Später heiratete Agnes Heuer und wurde Mutter von zwei Kindern.

Start am Silvester 1971

An Silvester 1971 startete Agnes Heuer im «Weissen Kreuz»: «Ich hatte ein kleines Beizli gesucht. Bauer Frey von der Milchgenossenschaft vermietete das Restaurant und meinte: ‹Moll, Sie passet mer!› und so unterschrieb ich den Mietvertrag. Ich war 26 Jahre alt und hatte kein Geld. Von einem Bekannten hatte ich 10000 Franken Kredit bekommen, um das Inventar zu übernehmen. Der Anfang war hart, aber ich habe es nie bereut», blickt Agnes Heuer zurück. «Der Stammtisch war damals sehr gut besetzt, nach der Arbeit ging man in die Beiz zum Feierabendbier. Ein Bier kostete 80 Rappen.»

«Die Gäste sind mit mir alt geworden», sagt die Wirtin bei einem Glas Fendant. «Als ich anfing, verkehrten Frauen nicht in der Beiz. Das hat sich heute geändert.» Strenge Promille-Kontrollen und Rauchverbot haben vielen Wirten geschadet. «Viele Gäste sagen: ‹Wenni ned emol in Rueh eis cha trenke, de chommi gar nömme›.» Die Raucher rennen für jede Zigarette nach draussen: «Das Geläuf gibt Unruhe in der Beiz.»

Legendäre Fasnacht

Legendär im «Weissen Kreuz» waren auch Metzgete und Fasnacht: «Wir hatten viele lustige Mottos – einmal verwandelte ich die Beiz in einen Western-Saloon und servierte als Sheriff-Lady», lacht Agnes Heuer. Dieses Jahr hiess das Motto «Superstars im Chrüüz», in der Beiz waren 120 Porträts von Stammgästen aufgehängt. Dass «Agnes» und ihr «Weisses Kreuz» heuer auch Sujet an der Melliger Fasnacht waren, ist der bescheidenen Wirtin nicht so recht, zeigt aber, dass sie einfach zum Reussstädtchen dazugehört und gar nicht wegzudenken ist.

Männerchor und Turnverein Mellingen, der Jodelklub Möriken, die Karnemellipserzunft und viele Stammgäste werden die Mellinger Wirtin vermissen. «Meinen treuen und lieben Gästen und meinem Servierpersonal möchte ich recht herzlich danken», sagt «Agnes», die sich das Leben ohne Wirtsstube noch nicht so recht vorstellen kann: «Ich weiss auch noch nicht, ‹wie das usechunnd›.» Ein Traum wäre eine Reise nach Australien, dorthin ist Agnes Heuers erste Serviertochter ausgewandert: «Einmal die Kängurus live sehen, das wär ‹scho no öppis›.»

Der sympathischen 66-jährigen Agnes Heuer fällt der Abschied nicht leicht. Sie ist Gastgeberin mit Leib und Seele. Dennoch sagt sie: «Jetzt geniesse ich den Ruhestand. Ich hatte ja bisher nur zwei Wochen Ferien pro Jahr.»

Information: Am Mellinger Flohmarkt am Samstag, 30. April, wird das «Weisse Kreuz» nochmals geöffnet.