Asbestopfer
Witwe nach 12-jährigem Kampf: «Endlich werden wir ernst genommen»

Renate Howald Moor kämpft seit 12 Jahren für ihren verstorbenen Mann und gegen die Verjährung. Der Prozess ist sein Vermächtnis. Der Durchbruch kommt nach Jahren der Rückschläge: Jetzt hat das Bundesgericht eingelenkt.

Mario Fuchs
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Jahrelang hat Hans Moor Turbinen montiert. Später starb er wegen Asbest an einem unheilbaren Lungenkrebs.
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Aus glücklichen Tagen: Ehepaar Moor.
Asbestopfer Hans Moor

Jahrelang hat Hans Moor Turbinen montiert. Später starb er wegen Asbest an einem unheilbaren Lungenkrebs.

Mario Fuchs/ZVG

Am Vortag stand Renate Howald Moor für die «Tagesschau» vor die Kamera, jetzt sitzt sie zu Hause in Untersiggenthal am Tisch und bastelt Adventsdekorationen.

«Schwemmholz, Moos, was ich gerade so finde in der Natur.» Es ist ein Moment der Ruhe zwischen Telefonaten, Anwaltsbesprechungen und Interviewterminen.

Der Grund für das nationale Medieninteresse: Renate Howald Moor ist die Witwe von Hans Moor, verstorben am 10. November 2005. Jetzt, zehn Jahre danach, hat sie endlich wieder Hoffnung, dass es doch noch so etwas wie Gerechtigkeit gibt.

Prozess als Vermächtnis

Die Todesursache war ein Pleuramesotheliom – ein unheilbarer Lungenkrebs, nachweislich verursacht durch Asbest.

Zuerst verlor der 58-Jährige die Stimme, dann den Atem. Es war ein sehr schmerzhafter Tod – und einer, der bis heute die Familie und die Justiz beschäftigt.

Denn bevor er starb, reichte Hans Moor beim Arbeitsgericht Baden eine Schadenersatz- und Genugtuungsklage über 213'000 Franken ein. Er klagte gegen Alstom.

Jahrelang hatte er Turbinen montiert, zuerst für die Maschinenfabrik Oerlikon, dann für BBC, ABB und zuletzt für deren Rechtsnachfolgerin Alstom. Es waren Turbinen mit Asbestisolierungen, nur sagten die Chefs ihren Arbeitern nicht, dass der Werkstoff lebensgefährlich sein könnte.

Hans Moor fragte 2004 seine Frau, ob sie bereit wäre, für ihn den Kampf weiterzuführen, wenn er nicht mehr da sei.

«Ich musste keine Sekunde überlegen. Ich habe es ihm sofort versprochen», erzählt die 66-Jährige. Geführt wird der Prozess offiziell von den zwei Töchtern von Hans Moor, die medial aber im Hintergrund bleiben wollen.

Bundesgericht zögerte lange

Letzte Woche gab es nach Jahren der Rückschläge wieder einmal gute Neuigkeiten, oder eher: einen regelrechten Durchbruch. Das Bundesgericht revidierte sein Urteil aus dem Jahr 2010.

Darin hatte es festgehalten – wie zuvor schon das Arbeitsgericht Baden und das Aargauer Obergericht –, dass Moors Ansprüche verjährt seien. Fälle wie seiner verjähren nach geltendem Recht nach 10 Jahren.

Entscheidend ist aber, wann die Frist zu laufen beginnt: Bereits, als er in den Sechziger- und Siebzigerjahren erstmals die hochgiftigen Asbestfasern einatmete? Oder erst ab dem Tag, an dem er die erschreckende Diagnose erhielt, also ab 2004?

Die Forderung wäre so absurderweise bereits verjährt, bevor der Schaden überhaupt eingetreten war, bevor Moor überhaupt wissen konnte, wie krank er ist.

Die Familie Moor und ihr Anwalt David Husmann, Präsident der Vereinigung von Asbestopfern, zogen 2010 weiter nach Strassburg, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Er entschied 2014, dass der Anspruch auf gerichtliche Beurteilung verletzt wurde: Das Bundesgericht müsse den Fall neu beurteilen. Die Moor-Töchter reichten beim Bundesgericht ein Revisionsgesuch ein.

Und wurden erneut vertröstet: Im Frühling dieses Jahres wurde das Verfahren sistiert. Begründung der Bundesrichter: Im Parlament wurde gerade eine Motion zur Errichtung eines «Fonds zur gerechten Entschädigung von Asbestopfern» behandelt.

Könnten Opfer wie Moor auf diesem Weg entschädigt werden, wäre eine Revision nicht nötig, befanden sie.

«Bin nur Mittel zum Zweck»

Doch die Motion im Nationalrat wurde zurückgezogen, weil der Bundesrat einen runden Tisch unter der Leitung von Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger einsetzte. Nach dem Rückzug hob das Bundesgericht die Sistierung im Juli auf.

Und entschied letzte Woche: Der Fall wird zur Neubeurteilung ans Arbeitsgericht Baden zurückgewiesen. Die Frage der Verjährung darf dabei nicht mehr berücksichtigt werden.

«Jetzt sind wir zurück auf Feld 1», sagt Renate Howald Moor. «Für uns heisst das: Wir werden endlich ernst genommen. Man kann endlich einmal diskutieren miteinander.»

Was sie damit meint: Die Frage, ob überhaupt ein Schadenersatzanspruch besteht, wurde bislang gar nicht geklärt, es ging immer nur um die Verjährung.

«Jetzt zählt dieses Argument nichts mehr. Wir hoffen, dass es jetzt endlich zu einer Lösung kommt.»

Die finanzielle Entschädigung sei dabei für sie zweitrangig. Ziel der Familie ist es, die Verjährungsregelung zu ändern, sodass künftig, wie es etwa in Frankreich längst Praxis ist, erst ab dem Eintreten eines Schadens gezählt wird.

«Es gibt so viele Leute, die darunter leiden. Es geht hier nicht nur um Asbest. Es geht auch um Nanopartikel, Handys. All die technischen Neuerungen, von denen man heute noch nicht weiss, wie sie sich auf uns auswirken werden.»

Das Argument der Industrie, warum es klare Verjährungsfristen brauche, sei Rechtssicherheit. Howald Moor: «Das ist einfach nicht fair. Warum brauchen Konzerne Rechtssicherheit, und wir Bürger brauchen keine?»

Den Prozess durchziehen kann sie nur dank einer Coop-Rechtsschutzversicherung, die ihr Mann abgeschlossen hatte und die bis heute zahlt. «Die Kosten würden ins Astronomische gehen, wir hätten das nie stemmen können.»

Die Verantwortlichen hätten Unterstützung bis zum Schluss zugesagt. «Weil sie erkannt haben, wie wichtig unsere Frage ist.»

Nach 12-jährigem Kampf ist Renate Howald Moor erleichtert, dass es weitergeht. Auch etwas stolz? «Das ist der falsche Ausdruck. Ich bin nur Mittel zum Zweck. Jemand muss das durchziehen, jetzt bin es halt einfach ich.» Dann nimmt sie etwas Moos in die Finger und bastelt weiter.