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Die Regionalwerke Baden planen in Obersiggenthal einen Neubau, der die Zukunft des Bauens aufzeigen soll. Der Architekt erklärt, wie.
Vergangene Woche setzte der Badener Stadtrat sein Klimaziel durch: Netto null CO2-Ausstoss bis 2050, abzüglich der natürlichen Emissionen also die Klimaneutralität. Der politische Rahmen ist gesetzt. Unklar bleibt für viele, vermutlich selbst viele Politiker, wie genau dieses Ziel erreicht werden soll und wie unser aller Leben in 30 Jahren aussehen könnte. Auf diese Fragen wollen die Regionalwerke Baden (RWB) jetzt schon eine visionäre Antwort liefern – zumindest, was das Wohnen und Bauen anbelangt.
Das Leuchtturmprojekt soll in den kommenden Jahren in Obersiggenthal gebaut werden – die RWB besitzen im Ortsteil Rieden, direkt beim Limmatsteg, ein Grundstück. Geplant ist eine Wohnüberbauung, die schon jetzt dem Ziel aus der Energiestrategie 2050 entspricht. Das Netto-null-Ziel bezüglich CO2-Emissionen steht bei allen Aspekten im Vordergrund. Denn: Kaum ein Thema wird Architekten in den kommenden Jahren so sehr beschäftigen wie nachhaltiges Bauen. 2017 hatte der Gebäudesektor gemäss Bundesamt für Umwelt den zweitgrössten Anteil am Schweizer CO2-Ausstoss. Zudem werden knapp 50 Prozent des Energieverbrauchs für Gebäude aufgewendet. Also müssen besser früher als später Pionierprojekte her.
Im Ausschreibungswettbewerb für das Projekt entschied man sich für das junge Zürcher Architektenbüro JOM. 2016 wurde dem Unternehmen der Förderpreis für Schweizer Jungarchitekten verliehen. JOM-Architekt Stefan Oeschger, Spezialist für nachhaltiges Bauen, sagt: «Die Netto-null-Ansprüche, die wir uns schon jetzt beim Entwerfen und Bauen von Gebäuden setzen, müssen in Zukunft wohl alle Architekten einhalten. Wir wollen mit dem Projekt beweisen, dass ‹postfossile› Architektur jetzt schon möglich ist.»
Aber wie genau lässt sich das umsetzen? Das Gebäude in Obersiggenthal, das dereinst Mietwohnungen für 43 Haushalte beherbergen soll, ist als sein eigenes Kraftwerk gedacht, erklärt Oeschger. Das komplette Dach besteht quasi aus Fotovoltaik-Anlagen zur Stromerzeugung. Diese produzieren mehr als genug Strom für das Gebäude, der Überschuss wird in das RWB-Netz eingespeist. Überhaupt steht die Vernetzung des Gebäudes in die regionalen Energiekreisläufe im Vordergrund. «Wir wollen eben kein autarkes Haus, das seine Energie selbst produziert, aber auch nur selbst nutzt. Die Vernetzung mit einem intelligenten Versorgungsnetz ist um einiges nachhaltiger», erklärt der Architekt.
Er führt aus, dass mit einem «Power to Gas»-Kraftwerk, welches die Regionalwerke noch bauen wollen, aus dem überschüssigen Strom Wasserstoff gewonnen werden kann. Dieser Wasserstoff kann durch Methanisierung ins Gasnetz eingespeist und saisonal gespeichert werden. Das im Sommer gespeicherte solare Methan-Gas kann so in den Wintermonaten mittels CO2-neutraler Gas-Kombi-Kraftwerke in Wärme und Strom umgewandelt werden. Der Neubau selbst wird an den Rücklauf des Fernwärme-Netzes der Region Siggenthal-Baden Nord («Sibano») angeschlossen, welches unter anderem die Abwärme der Kehrichtverbrennungsanlage in Turgi nutzt.
Regionalität spielt neben der Energieversorgung auch beim Bau des Wohnhauses selbst eine Rolle: Die Materialien sollen so gut es geht aus der Region kommen. Für die Klimaneutralität ist allerdings wichtiger, welche Materialien verbaut werden, als woher sie kommen. «Im Grunde entsteht ein Holzhaus. Im Gegensatz zum Beton stösst Holz kein CO2 aus, sondern speichert es. Das ist natürlich gut für die Netto-null-Bilanz», erklärt Stefan Oeschger. Entgegen der landläufigen Meinung stellen Holzhäuser Architekten auch nicht vor Brandschutz-Probleme.
Aktuell befindet sich das Projekt im Gestaltungsplanverfahren, welcher unter anderem die Erarbeitung eines Mobilitätskonzepts vorsieht. Dabei befinde man sich laut Oeschger im engen Austausch mit der Gemeinde Obersiggenthal und den Anwohnern. Der öffentliche Nahverkehr ist bereits gut erschlossen: Die beiden Bushaltestellen «Boldi» und «Limmatsteg» sind in je fünf Minuten zu erreichen. Und wer dann zehn Minuten nach Baden gefahren ist, dem steht vom Bahnhof aus sowieso die ganze Welt offen. Aber: Ganz ohne Individualverkehr, also Privatautos, ist Wohnen heute noch nicht möglich. In einer Tiefgarage und vor dem Gebäude sollen rund 30 Parkplätze entstehen. Zusätzlich werden die RWB zwei Elektroautos samt Ladestationen für Carsharing anbieten.
Es ist eine speziellere Wohnform für Menschen, welche sich für alternatives Wohnen interessieren.
(Quelle: Gilles Tornare, Marketing-Leiter Regionalwerke Baden)
Natürlich wäre ein reines E-Auto-Carsharing mit Verzicht auf Parkplätze noch nachhaltiger. «Aber das entspricht noch nicht der Realität im Autokanton Aargau. Ausserdem wollen wir bezahlbare und markttaugliche Wohnungen realisieren, die nicht nur wohlhabenden Leuten zur Verfügung stehen, die sich leisten können, kein Auto zu besitzen. Alles andere wäre kein Beweis, dass mit dem Netto-null-Ziel Wohnen bereits heute möglich ist», so Oeschger. Die Parkflächenreduktion wird derzeit noch sehr genau geprüft – wie viele Stellplätze dann genutzt werden, hängt vor allem auch von den zukünftigen Bewohnern ab.
Die Bewohner werden die nachhaltige Vision letztendlich am stärksten in der Wohnform selbst spüren: Die Ein- bis Vierpersonenwohnungen, allesamt mit Balkon mit Limmatblick, sollen auf eine Fläche von 35 Quadratmeter pro Person begrenzt werden – je weniger Platz, desto weniger Energieverbrauch. Das Wohnen soll in vielen Hinsichten flexibilisiert, vergemeinschaftlicht und digitalisiert werden. Mittels Doppelflügeltüren können die Bewohner die Räume selbst auf- und einteilen. Wem die Kochnische in der Wohnung nicht reicht, der kann in der grossen Gemeinschaftsküche kochen oder diese mittels App für den Eigenbedarf buchen. Ebenso können weitere Räume, die gemeinschaftliche Terrasse und der grosszügige Garten gemietet werden.
Welcher Bereich und welches Auto wann verfügbar sind, soll auch auf grossen Bildschirmen in der sogenannten «Werk-Lobby» ersichtlich sein. Oeschger: «Die ‹Werk-Lobby› verbindet die beiden Wohnhäuser. Das kann ein grosser Coworking-Space sein, kann aber auch zum Beispiel von den Regionalwerken für Info-Anlässe oder für Veranstaltungen im Quartier genutzt werden. Wie der Raum im Endeffekt genutzt wird, können wir noch nicht wissen. Aber er soll flexibel sein für die Wohn- und Arbeitsformen, die sich bis dahin entwickelt haben.»
Was heute also noch zumindest unkonventionell klingt, könnte in Zukunft die vorherrschende Wohnform sein. Wenn die Planung des Leuchtturmprojekts vorankommt, könnten die ersten Menschen hier bereits 2023 oder 2024 wohnen wie 2050. Aber ist die Gesellschaft dafür überhaupt schon bereit? «Es ist definitiv eine speziellere Wohnform für Menschen, welche sich für alternatives Wohnen interessieren», findet Gilles Tornare, Marketing-Leiter der Regionalwerke Baden. «Wir sind überzeugt, dass alle 43 Wohneinheiten vermietet werden können.»
Gerade in der dynamischen Badener Arbeitswelt finde sich bestimmt die Bereitschaft für ein solches Wohn- und Arbeitsexperiment. Tornare fügt an, dass die Regionalwerke Vermieter werden sollen. «Das ist eine grosse Chance für uns, neue Technologien anzuwenden und daraus Erkenntnisse für die Zukunft – und somit vielleicht die Zukunft des Wohnens und Bauens überhaupt – zu ziehen.»