Augustin Keller, der grosse Schweizer Klostergegner, bezichtigte die Gnadenthaler Nonnen der Unzucht. Belegen lässt sich nichts. Hier die echten Fakten dazu.
Das Leben der Nonnen, abgeschirmt hinter Klostermauern, war schon immer Anlass für wildeste Fantasien. Bussgürtel mit Stacheln aus Eisen sollen sie getragen haben, um sexuelle Versuchungen abzutöten. Auch im Kloster Gnadenthal: Man kann Exemplare solcher Züchtigungsinstrumente noch im Museum vor Ort besichtigen. Aber irgendwie schien man den frommen Frauen ihren religiösen Furor dennoch nicht ganz abzunehmen, wie historische Quellen beweisen.
So unterstellte Augustin Keller, der als «Klostermörder» in die Geschichte eingegangen ist, den Nonnen des Klosters Gnadenthal unverhohlen folgenreiche Verfehlungen gegen das Keuschheitsgebot: «Und wenn auf dem Wege des notorischen Gerüchtes aus Gnadenthal zwiefaches Mutterglück und die Fürsorge des Herrn Beichtigers von Wettingen gemeldet wurde, so konnten wir dem Gerüchte keine gerichtlich erhobene Thatsache zu Grunde legen: aber das wissen wir, daß das Gerücht ein allgemeiner Skandal, und dieser Skandal eine wirkliche, konstatierte Thatsache war.»
Gnadenthaler Nonnen als gefallene Engel? Zwei Kinder im Kloster? Das mochte der Propaganda gegen die Klöster dienen. Ernst zu nehmen war es allerdings nicht. Allein die Formulierung zeigt, dass Keller wohl selbst nicht an das Gerücht geglaubt hat. Nichts von alledem lässt sich belegen.
Im Vorfeld der Reformation gab es aber auch in den Aargauer Klöstern nachweisbare Tendenzen eines sittlichen Verfalls. 1428 ermahnte der Bischof von Konstanz die Nonnen im Freiamt, den verdächtigen Umgang mit Geistlichen oder Laien zu meiden. Sogar im höchsten Gremium der Alten Eidgenossenschaft, der Tagsatzung, war die «Klosterzucht» ein Thema: «Man soll vorsorgen, daß die Frauen in Gnadenthal, Hermatschwyl und Frauenthal in ihren Klöstern bleiben und daß kein Pfaffe zu ihnen hereinkomme», liest man in den Aufzeichnungen.
1480 und 1487 finden sich weitere Berichte: «In Betreff der Übelstände, die walten sollen», wurde eine Untersuchung angeordnet, «damit aller Unfug abgestellt und ein zimlich wesen mit Gottesdienst usw. an beiden Orten geübt werde». «Zimlich» meint, was sich ziemte, sich gehörte, wie es den kirchlichen Regeln entsprach.
Nahmen die Nonnen ihr Gelübde nicht so streng? Es ist belegt, dass sechs junge Männer aus der Umgebung 1525 in einem nächtlichen «Überfall» in die Klausur eindrangen. Was genau vorgefallen ist, geht aus den fünf Berichten der Tagsatzung nicht hervor. Ebenso wenig die Rolle, die die Nonnen dabei gespielt haben. Verräterisch ist, dass alles selbst von höchster Stelle kleingeredet wurde.
«Es ging ein Aufatmen durch die katholische Volksseele», als der Tabakfabrikant im Gnadenthal 1889 aufgeben musste. Adolf Eschmann-von Merhart hatte die Klosteranlage 1876 vom Kanton gekauft. Der Gutsbesitzer verärgerte die Nesselnbacher, weil er ihnen verbot, trockenes Holz im Klosterwald zu sammeln. Noch viel schlimmer: Es gab keine Frühmesse mehr. Der Frühgottesdienst sei «seit unvordenklichen Zeiten» Brauch gewesen. Auch die formelle Einsprache der Gemeinderates Nesselnbach nützte nichts.
Der Besitzer des Klosters war halt Zürcher. Und auch noch ein Reformierter! Er baute das katholische Kloster in eine «Tabacfabrik» um. Skandal! Und: Er liess seine Kinder von einem reformierten Pfarrer taufen. In der geweihten Klosterkirche! Das war ein wahres Sakrileg.
Die Einträge im reformierten Taufregister sind eindeutig: Max Adolf Eugen, geboren am 18. August 1878, getauft in der «Klosterkirche» am 25. August. Franz Heinrich Ulrich, geboren am 2. März 1881, getauft in der «Klosterkirche» am 22. April. (hb)
In den Aufzeichnungen der Tagsatzung liest man: «Der Abt von Wettingen samt einigen Priestern und der Ammann von Gnadenthal, im Namen der Äbtissin» bitten, die Burschen «zu begnadigen und frei nach Hause kommen zu lassen». Zwei Monate später wurde zusätzlich ein Begehren der Verwandten behandelt. Die jungen Männer, die tatsächlich eingesperrt waren, durften «heimkehren».
Es scheint, dass das Kloster Gnadenthal die Reformation dennoch einigermassen unbeschadet überstanden hat. Belegt ist mit einem Tagsatzungsbericht von 1532 der Austritt von zwei Nonnen, die «sich verehelicht haben». Man kennt sie aus dem szenischen Rundgang von Irene Briner im Gnadenthal.
Im Gegensatz zu Kellers Fake News von den zwei Geburten im Kloster Gnadenthal lassen sich im Geburtsregister der Gemeinde Nesselnbach tatsächlich zwei Niederkünfte in den historischen Gemäuern des Klosters nachweisen (siehe Kasten).
Diese haben allerdings nichts mit den Nonnen zu tun. Die Familie des Gutsbesitzers und Unternehmers Eschmann von Merhart, die zur Zeit der Tabakfabrik im ehemaligen Kloster wohnte, bekam zwei Kinder im Gnadenthal: Am 18. August 1878 wurde Max Eugen Adolf «um ein Uhr vormittags», und am 2. März 1881 Franz Ulrich Heinrich um «fünf Uhr vormittags» geboren. Augustin Keller hat die Geburten noch erlebt. Was er zum echten zweifachen Mutterglück im Kloster gesagt hat, ist allerdings nicht bekannt.