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Pfarrer Josef Hochstrasser spricht im Interview über Gottlieb Locher, den höchsten Reformierten im Land und erklärt, was die Reformierten von den Katholiken übernehmen könnten.
Josef Hochstrasser: Ich nenne ihn nicht einfach den reformierten Bischof, der Untertitel lautet «Der reformierte Bischof auf dem Prüfstand».
Die reformierte Kirche hat kein Gesicht. Kirchen brauchen ein klares Profil. Sonst werden sie nicht wahrgenommen. Und Hierarchie ist nicht einfach vom Teufel. Eine allzu liberale Kirche droht zu verschwinden. Eine Solidargemeinschaft braucht Figuren, Köpfe. Und manchmal auch eine offizielle Linie.
Das meine ich nicht! Wenn eine Gemeinschaft einen Guru hat, an dessen Lippen die Gemeindeglieder hängen, dann läuft es falsch. Da werden die Gläubigen infantilisiert.
Ich kenne ja beide Seiten. Ich war katholischer Priester. Nach meiner Heirat erhielt ich Berufsverbot und wurde reformierter Pfarrer. An der katholischen Messe faszinierten mich vor allem die Sinnlichkeit, die Rituale, die Kerzen. Doch als ich Priester wurde, erlebte ich auch die leidvolle Seite, das Pflichtzölibat, die Dogmen. Jesus war kein Anführer, der verordnete. Er war eine Figur, die ermunterte und stärkte. Die Reformierten könnten von den Katholiken die Emotionen übernehmen, aber nicht die Dogmen.
Ich habe zwar erwartet, dass solche Aussagen provozieren. Aber ich habe mich schon ein wenig gewundert über gewisse Reaktionen. Medien, die sonst nicht auf dem Boulevard zu Hause sind, haben sich auf dieses Kapitel gestürzt, isoliert daraus zitiert und damit Missverständnisse provoziert. Das Buch enthält noch viele andere Aussagen.
Diese verkürzte Darstellung wird dem differenzierenden Kapitel nicht gerecht. Wir haben im Gespräch versucht, die Widersprüchlichkeiten der Prostitution aufzuzeigen. Sie verursacht in ihrer nicht einvernehmlichen, gewalttätigen Form viel Leid. Wo sie ein «Geschäft» unter freien Menschen ist, ist sie zu tolerieren. Locher und ich wollen in diesem und in anderen Kapiteln dazu aufrufen: Schaut hin, diskutiert – verurteilt nicht voreilig und pauschal.
Jedenfalls für mindestens so wichtig.
Gottfried Locher und ich haben die meisten Gespräche an Schauplätzen geführt, welche zu den Themen passten: in einem Asylempfangszentrum, im Kloster Einsiedeln, im Bundeshaus, auf einer Palliativstation, auf der Berner Kirchenfeldbrücke, wo sich immer wieder Menschen in den Tod stürzen – und im Berner Münster, Lochers «Haus-
Kirche». Wir haben über brennende Fragen der Zeit geredet und Antworten aus christlicher Sicht gesucht.
Nein! Wir sollen unser Herz und unser Land öffnen für echte Flüchtlinge. Für alle anderen Fälle bedeutet christliche Nächstenliebe: Helfen dort, wo die Leute herkommen. Damit sie gar nicht zu uns kommen müssen. Denn auf diesen Reisen passiert ja auch viel Leid – das Stichwort Lampedusa genügt.
Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst wenige Menschen den Wunsch nach freiwilligem Sterben hegen. Doch ich bewege mich auf der Linie von Hans Küng: Wenn ein Schwerkranker nicht mehr leben will, sollte man ihm diesen Wunsch nicht verweigern.
Ja. Ich bin letztlich ein Agnostiker. Die Existenz Gottes ist nicht zu beweisen, seine Nichtexistenz allerdings auch nicht. Wir müssen mit dieser Ungewissheit leben. Locher ist ein Theist, er begreift Gott als Schöpfer der Welt. Sonst wäre er ja falsch in diesem Amt. Er hat aber nicht einen naiven Glauben, er verlässt den theologischen Elfenbeinturm und lässt auch Zweifel zu, bei sich und bei anderen.