Die Staatsanwaltschaft hat ein Elternpaar aus Somalia angeklagt. Sie wirft ihnen mehrfache Genitalverstümmelung beziehungsweise Anstiftung dazu vor. Am Dienstag mussten sich die beiden vor dem Bezirksgericht Baden verantworten.
«Ich möchte darüber nicht reden.»
Das ist das einzige, was der Vater und die Mutter an diesem Vormittag im Gerichtssaal sagen. Wie bereits im Strafverfahren machen sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Ob sie verstanden haben, dass das, was ihren fünf Töchtern widerfahren ist, ein sehr schlimmes Unrecht ist, bleibt unklar.
Die Staatsanwaltschaft Baden hat die 37-jährige Somalierin und ihren gleichaltrigen Ehemann angeklagt. Sie wirft den beiden vor, sie hätten zwischen 2012 und 2016 fünf ihrer Töchter in Somalia beschneiden lassen. Die Mädchen waren bei der Beschneidung zwischen vier und elf Jahre alt.
Der Vater lebt seit 2014 in der Schweiz. Die Mutter und die Kinder folgten ihm 2018. Zum Zeitpunkt der Genitalverstümmelungen lebten also mindestens die Mutter und die Töchter noch in Somalia. Trotzdem wurde den Eltern am Dienstag vor dem Bezirksgericht Baden der Prozess gemacht.
Seit dem 1. Juli 2012 gibt es einen Artikel im Schweizerischen Strafgesetzbuch, der Genitalverstümmelung unter Strafe stellt. Auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde. Bestraft werden können nicht nur Beschneiderinnen und Beschneider, sondern auch Eltern oder Familienmitglieder. Die Staatsanwaltschaft forderte für die Eltern eine bedingte Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie eine Busse in der Höhe von 2000 Franken.
Im Gerichtssaal stellt sich rasch das Gefühl ein, dass von den direkt Involvierten niemand ein Interesse an dieser Strafverfolgung zu haben scheint. Die beiden älteren Töchter, die inzwischen volljährig sind, haben darauf verzichtet, im Strafverfahren gegen ihre Eltern als Privatklägerinnen aufzutreten.
Die drei Minderjährigen waren anwaltschaftlich vertreten. Ihre Anwältin wies im Plädoyer aber auf den inneren Konflikt der Kinder hin. Sie seien alle Opfer einer Straftat. Gleichzeitig seien sie stark geprägt vom kulturellen Hintergrund in ihrer Heimat, lebten bei ihren Eltern, seien abhängig von ihnen und liebten sie auch. Die Anwältin stellte namens der Mädchen vor Gericht Schadensersatz- und Genugtuungsforderungen.
Diese seien wohl eher der anwaltschaftlichen Sorgfaltspflicht geschuldet, kommentierte die Verteidigerin der Mutter später in ihrem Plädoyer. Die Töchter würden ihren Eltern keine Vorwürfe machen und sie nicht belasten. Im Strafverfahren hat keine der fünf Aussagen gemacht.
Bei den Strafverfolgungsbehörden ist der Fall gelandet, weil die Kinderschutzgruppe des Kantonsspitals Baden (KSB) eine Anzeige eingereicht hat. Eine der Töchter hatte während des Sexualkundeunterrichts in der Schule erzählt, dass bei ihr «geschnitten wurde». Die Schule informierte daraufhin die Kinderschutzgruppe, die das Mädchen und ihre Schwestern gynäkologisch untersuchte und Verstümmelungen im Genitalbereich feststellte.
Der Verteidiger des Vaters verlangte, das Verfahren sei einzustellen oder seinen Mandanten freizusprechen. Bei mehreren Töchtern sei aufgrund des genannten Tatzeitraumes nicht klar, ob die Gesetzesbestimmung zur Genitalverstümmelung in der Schweiz überhaupt schon in Kraft war, als die Taten passierten. Bei den anderen habe der Vater bereits in der Schweiz gelebt und die Beschneidungen in Somalia nur schon wegen der räumlichen Distanz nicht verhindern können.
Die Verteidigerin der Mutter plädierte ebenfalls auf Freispruch. Sie warf der Staatsanwaltschaft vor, der Sachverhalt in der Anklageschrift sei nicht ansatzweise nachgewiesen.
Das Bezirksgericht Baden hat die Eltern freigesprochen. «Der Freispruch ist nicht erfolgt, weil wir das nicht schlimm finden», sagte Gerichtspräsidentin Gabriella Fehr an die Adresse der Eltern. Der Freispruch sei erfolgt, weil das Gericht nicht wisse, was genau passiert sei in Somalia und welche Rolle die Eltern dabei spielten.
Es stelle sich zudem die Frage, ob ihnen überhaupt bewusst war, dass Genitalverstümmelung verboten sei. In Somalia sind 98 Prozent der Mädchen und Frauen beschnitten. Gemäss den Akten des Migrationsamts führte die Familie in Somalia ein einfaches Nomadenleben auf dem Land. Möglich also, dass sie es gar nicht mitbekommen hatten, dass auch ihr Land 2012 ein Verbot in die Verfassung geschrieben hat.
Diese Aufklärung holte die Gerichtspräsidentin nach. Sie erklärte den Eltern, dass sie nun in der Schweiz zu Hause seien und Genitalverstümmelung hier nicht erlaubt sei. «Sollten Sie Ihre jüngste Tochter, die noch nicht beschnitten ist, beschneiden lassen, werden Sie bestraft.»