Restaurative Justiz
«Die Gespräche mit Tätern helfen, damit die Opfer nicht in der Vergangenheit gefangen bleiben»

Claudia Christen hat die Restaurative Justiz im Ausland kennen gelernt. Sie war so überzeugt davon, dass sie in der Schweiz in der Strafanstalt Lenzburg ein Pilotprojekt gestartet hat. Lesen Sie hier das Interview.

Janine Gloor
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Claudia Christen (Mitte) führt in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg Begegnungen zwischen Tätern (l.) und Opfern (r.) durch.

Claudia Christen (Mitte) führt in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg Begegnungen zwischen Tätern (l.) und Opfern (r.) durch.

Peter Schulthess/prison.photography

Wie sind Sie zur Restaurativen Justiz gekommen?

Ich habe elf Jahre in Chile gelebt und dort zunächst als Mediatorin in der Prävention von häuslicher und sexueller Gewalt gearbeitet und mit der Zeit auch als Mediatorin. Nachdem jemand im Justizministerium auf meine Arbeit aufmerksam wurde, habe ich begonnen, im Gefängnis mit Schwerverbrechern Kurse in gewaltfreier Konfliktlösung und Prävention durchzuführen und nach ein paar Jahren erhielt ich den Auftrag, restaurative Dialoge einzuführen. Das war für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Ich sass manchmal mit dreissig Gefangenen in einem Raum und habe mit ihnen über ihre Taten gesprochen. An einer Universität in Kanada habe ich dann drei Semester Restaurative Justiz studiert, um mehr von diese Justizphilosophie und ihrer Anwendung besser zu verstehen. Basierend auf meinen eigenen Erfahrungen habe ich schnell gemerkt, wie hilfreich die Restaurative Justiz für Opfer sein kann und wie effektiv auch für Täter, um die Konsequenzen ihrer Tat zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen.

Sie sind so überzeugt von der Restaurativen Justiz, dass Sie in der Schweiz das Schweizer Forum für Restaurative Justiz gegründet haben und Pilotversuche in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg durchgeführt haben. Offenbar mit Erfolg.

Nachdem ich anfangs von zwei Justizvollzugsanstalten Absagen erhielt, wird das Interesse immer grösser. In Lenzburg führen wir nun regelmässig Dialoge durch und starten derzeit auch im Jugendgefängnis Les Léchaires im Kanton Waadt. Ebenso stehen wir mit der Strafanstalt Bostadel (ZG) in den Vorbereitungen für restaurative Dialoge.

Im Zusammenhang mit Restaurativer Justiz fällt oft das Wort Wiedergutmachung. Kann man einen Mord wiedergutmachen?

Ich mag das Wort Wiedergutmachung nicht, da es viele Dinge gibt, die nie «wieder gut gemacht» werden können nach einer Straftat. Wir sprechen von restaurieren, da man eine Tat nicht ungeschehen machen kann. Für viele Opfer gibt es lebenslange Konsequenzen von Taten, und oft wird das Leben nie mehr, wie es einmal war. Es geht darum zu helfen, die Tat aufzuarbeiten, einen Weg nach vorne zu finden, um nicht gefangen zu bleiben in der Vergangenheit.

Wie ist es, regelmässig mit Schwerverbrechern in Kontakt zu sein?

Wenn man mit Tätern zusammenarbeitet, sieht man hinter die Tat. Es sind trotz allem Menschen. Es geht auf keinen Fall darum, die Täter zu entschuldigen, doch ist es wichtig zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Ich hatte viel mit kriegstraumatisierten Menschen zu tun, die nie aus der Gewaltspirale herausfanden. Natürlich gibt es auch Menschen, die das Gleiche erlebt haben und nicht straffällig geworden sind. So ist es wichtig, die ganze Geschichte zu sehen und zu analysieren, wo gearbeitet werden muss, damit ein Täter hoffentlich nie mehr rückfällig wird. Es geht also auch um Prävention.

Wie kann man den Erfolg von Restaurativer Justiz messen?

Im Ausland gibt es Studien, die zeigen, dass die Rückfallquote von Tätern sinkt. Von der Opferseite kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass die Begegnungen mit Tätern viel bringen, was auch Studien bestätigen. Ich bin selbst in meinem Leben auch Opfer einer Gewalttat geworden. Während meiner Arbeit in Hochsicherheitsgefängnissen habe ich mit Gefangenen über ihre Taten gesprochen und dabei an restaurativen Prozessen teilgenommen, bevor ich überhaupt wusste, was Restaurative Justiz ist. Die Gespräche mit Tätern, die ähnliche Verbrechen begangen haben, haben mir geholfen, das Erlebte zu verarbeiten.