Constanze Günther wurde in der DDR geboren, reiste nach dem Mauerfall in den Dschungel und kletterte in der Pharmabranche die Karriereleiter hoch. Jetzt ist sie Werksleiterin bei Novartis in Stein.
Was macht denn ein Ossi in Sumatra? Constanze Günther lächelt, als sie sich erinnert. An ihre erste grössere Reise ohne Eltern. Es war zu Beginn der 90er-Jahre. Gemeinsam machte sie sich mit einer Freundin während der Semesterferien auf, den Dschungel zu entdecken. Irgendwo auf Sumatra treffen sie auf Westdeutsche. Und auf die eingangs gestellte Frage. Heute antwortet Günther: «Es war immer ein Traum von mir, den Dschungel zu sehen. Sie müssen sich das aus der DDR-Perspektive vorstellen, Bananen und Südfrüchte kannten wir nur aus der Werbung im Fernsehen.»
Die Lust am Abenteuer zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Sonst wäre sie kaum da gelandet, wo sie heute sitzt: im Chefsessel. Seit Sommer 2020 leitet Günther die Produktion für Zell- und Gentherapie der Novartis im aargauischen Stein. 320 Mitarbeitende zählt das Werk, das sie leitet. Es sollen gegen 100 weitere Stellen geschaffen werden in den nächsten Jahren.
Stein ist nicht irgendein Werk der Novartis, es ist eines der wichtigsten. Hier wird rund ein Drittel des Jahresumsatzes gemacht und in die Welt verschickt. Fertigspritzen, Pillen, Therapien im Wert von rund 15 Milliarden Franken. Jährlich. Und der Bereich, den Günther leitet, gilt als die Zukunft. Bei der Eröffnung der Produktion von Zell- und Gentherapien vor einem Jahr sagte Novartis-CEO Vas Narasimhan: «Wir hoffen, dass Standorte wie dieser dazu führen, dass niemand mehr an Krebs sterben muss.»
Im Werk von Günther wird heute genau eine Therapie gefertigt, die Zelltherapie Kymriah zur Behandlung von Blutkrebserkrankungen (siehe unten). Weitere Produkte sollen bald folgen. In Stein werden immer wieder neue Medikamente und Therapien lanciert. Hier ist die Avantgarde und zu der zählte Günther schon in jungen Jahren, nicht zuletzt, als sie kurz nach dem Mauerfall zu ihrer Abenteuerreise nach Sumatra aufbrach.
Aufgewachsen ist Günther in Freyburg,rund 50 Kilometer südwestlich von Leipzig. Man nennt die Gegend auch «Toskana des Ostens», wie Günther erzählt. Bekannt für den Weisswein und unterdessen auch Unesco-Weltkulturerbe. Ihr Vater war selbstständiger Schneidermeister, die Mutter technische Zeichnerin. «Zu DDR-Zeiten war es aufgrund des Systems nicht gern gesehen, selbstständig zu sein. Mein Vater hat es trotzdem geschafft, einen kleinen Betrieb erfolgreich zuführen.»
Der Westen war in ihrer Kindheit immer präsent. Der Bruder der Mutter lebte dort, die Gespaltenheit des Landes zog sich bis in die Familie fort. Und auch ihr Traum war es, rauszukommen. Deswegen begann sie früh mit Leistungssport. Speerwurf war ihre Disziplin. «Sport war eine Möglichkeit, die Grenze zu überwinden. Wer an Olympia teilnehmen konnte, durfte raus», erinnert sie sich.
Zu einer Olympia-Teilnahme hat es Günther nie gebracht. Schwere Verletzungen an der Schulter warfen sie zurück. Dann fiel die Mauer und die Sportschule, die sie besuchte, wurde geschlossen. Günther kehrte dem Einzelsport den Rücken und begann mit Handball. Sport war jetzt Hobby, denn der Weg in den Westen war auch so frei. So konnte sie während des Biologiestudiums in den Dschungel reisen. Später bildete sie sich weiter in Biochemie und Biotechnologie.
Während Günther doktorierte, arbeitete sie für ein Biotech-Start-up. Es war ihr erster Kontakt mit der Industrie und mit gentherapeutischen Ansätzen zu Beginn der 00er-Jahre. Sie doktorierte, stiess vor 15 Jahren zum Biotech-Unternehmen Cytos in Zürich, ehe sie 2010 zur Novartis wechselte und einen Teil der Biotechanlagen in Basel leitete. Letztes Jahr schloss Günther ihren Executive MBA an der Universität St.Gallen ab. Im August 2020 dann die Erklimmung der nächsten Hierarchiestufe, die Beförderung zur Werksleiterin.
Irgendwie speziell in einem Unternehmen, dessen CEO eine sogenannte «Unboss»-Kultur propagiert. Die Erklärung der Novartis: «‹Unbossed› stellt einen Kulturwandel dar, der nicht einen klassischen Hierarchieabbau, sondern die Förderung der Fähigkeiten und des selbstständigen Wirkens der Mitarbeitenden zum Ziel hat.» Eine solche Kultur soll Innovation erleichtern. Auch in Stein sei das so. «Unbossed heisst, auf die Stärken anderer zu vertrauen und sie zu unterstützen», sagt Günther. Das habe zu technischen und prozessualen Verbesserungen geführt. Und einer neuen Besprechungskultur. Ohne Angst vor Vorgesetzten.
Das war nicht immer so, wie sich Günther erinnert: «Als ich in die Industrie kam, war alles noch sehr hierarchisch, der Biotechbereich war sehr männerdominiert.» 2020 liegt der Frauenanteil bei Novartis Schweiz bei 44 Prozent, im Management bei 38. Trotzdem sagt sie: «Leider ist Frauenförderung weiterhin notwendig.» Die Novartis habe das erkannt, habe flexible Arbeitsmodelle, ermögliche Vaterschaftsurlaube und schaffe Transparenz bezüglich des Frauenanteils auf der jeweiligen Hierarchiestufe.
Günther selbst versucht zudem, Frauen dazu zu ermutigen, ihre Stärken zu erkennen und sich für entsprechende Positionen zu bewerben. Auch sei sie bestrebt, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Frauen wohl und geschätzt fühlen. Weil es mehr Frauen in Führungspositionen braucht. Und weil Günther den Mut hat, Dinge anzugehen.