So was habe ich noch nie vorher erlebt – leergekaufte Regale. Dieser Anblick blieb uns in unseren Breitengraden zumindest fast eine Generation lang gottlob erspart. Unser Versorgungssystem funktioniert bestens, nur in sogenannt unterentwickelten oder sozialistisch geprägten Staaten stehen heute Menschen für die Güter des täglichen Bedarfs noch Schlange. Denkste!
400 Tage ist’s nun her, als es in einem Dorfladen im Surbtal zu fast tumultartigen Szenen kam – die Einkaufswägelchen überquellend mit dem Produkt der Begierde schoben sich im Schneckentempo vom Eingang bis zum Ausgang quer durchs Ladenlokal, dicht aneinandergereiht mit gehässigen Co-Piloten zwischendrin. Das unangefochtene Ziel dieser Konsumexpedition befand sich mittendrin. Und wo in normalen Zeiten eine Abkürzung im Kauflabyrinth vor allem zielführend für Schnellerledigende war, wurde man nun vom Ladenpersonal gebieterisch, einer Schutzbrigade ähnelnd, in die korrekte Einkaufsspur eingewiesen.
Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit von der ungeduldigschnaubenden Meute gelenkt vor dem vermeintlichen Regal stand, war nichts mehr da. Nur die an den Gestellrändern haftenden Preisschildchen verrieten noch, für was diese Leere einmal stand: Papier für den Allerwertesten. Was tun, wenn aus dem Nichts unser Selbstverständnis des Seins am Hinterteil bemessen wird – wie wird das bloss enden, wenn uns das WC-Papier ausgeht? Nun, wenigstens einige Feuchttüchli waren noch im Sortiment – zur Not tun’s ja auch diese oder sonst eben noch anderes.
Wobei – der Mensch ist ja durchaus heikel geworden, wenn es um die Pflege seines besten Teils geht: Sage und schreibe 21 Kilo Klopapier werden mittlerweile pro Person und Jahr für den sauberen Wisch bei uns in die WC-Schüssel gespült. Damit liegen wir weit über dem europäischen Mittel. Das kommt daher, weil wir uns meist Vierlagiges und mehr gönnen– erst noch fein Gebleichtes, seltener Rezykliertes. Ja, wir lassen uns ganz sicher nicht lumpen, wenn’s um unseren Hintern geht. Klima hin oder her.
Die Spannung im Laden war inzwischen zum Schneiden. Einige erdreisten sich und sandten ihre Kinder vor, um noch zu ergattern, was es schon längst nicht mehr gab. Eine Person hatte gleich drei Familienpackungen in ihrem Wägelchen gebunkert und schmiss sich schützend über die gehamsterte Habe. Die Horde vor und hinter ihr fletschte missbilligend die Zähne, sodass die Entlarvte sich bald reuig hinter dem Warenkorb duckte und sehnend nach einer Turbo-Absolution an der Kasse Ausschau hielt.
Währenddessen presste sich die immer länger werdende Schlange im Zentimetertakt durch die Regalschluchten weiter.
Die Feuchttüchli waren bereits in meinem Einkaufskörbchen gelandet, dabei hatte ich wegen ein paar Briefmarken den Laden überhaupt erst angesteuert und eigentlich null Bedarf für diese Dinger – der Herdentrieb hatte mich längst zum Lemming in Kaufrausch gemacht. Unsere evolutionär bedingte Schwarmintelligenz ist uns heute eben kein so verlässlicher Ratgebermehr, wie uns der sinnlose WC-Rollen-Hype vor 400 Tagen beispielhaft vor Augen geführt hat – das sollte uns beileibe nicht am Arsch vorbeigehen.
Susanne Holthuizen: Die Kommunikationsdesignerin lebt mit ihrer Familie in Lengnau.