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Fidel Castros Kuba bewegte auch das ferne Zurzibiet

Die Kuba-Krise vom Oktober 1962 liess die Nachkriegsgeneration den Ausbruch des 3. Weltkriegs befürchten. Auch an der Bezirksschule in Endingen sprach man über den Schrecken des Atomkrieges. Hansrudolf Twerenbold und Walter Küng aus der Region Baden feierten mit «Nachtgespräche mit Fidel» einen grossen Theatererfolg.

Pirmin Meier *
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«Commandante» Fidel Castro fuhr in der Schweiz als Schreckgestalt wohl nie stärker ein als während der Kuba-Krise.

«Commandante» Fidel Castro fuhr in der Schweiz als Schreckgestalt wohl nie stärker ein als während der Kuba-Krise.

KEYSTONE

Fidel Castro als Nordwestschweizer? Am vergangenen Sonntag beim Atomausstieg hätte er wohl kaum mit der Schweizer Linken gestimmt. Dem brasilianischen Dominikanerpater Frei Betto erklärte er: «Das Atomkraftwerk (sowjetischer Bauart) von Confiegos wird gebaut unter Berücksichtigung strengster Sicherheitsvorschriften, damit es Meerbeben, Erdbeben und sogar dem Absturz eines Passagierflugzeuges widerstehen kann.»

Beim Glauben an die Technik hielt Castro es mit Lenin: «Kommunismus ist Sozialismus plus die Elektrifizierung des Landes.» Die Jesuitenschule, der er einen wesentlichen Teil seiner Bildung verdankte, wandelte Castro in eine Technikerschule um.

Die Bildungspolitik, die nebst der Gesundheitspolitik zur Positivbilanz von Castros Revolution gezählt wird, war schon seit 1940 auf hohem Niveau. Doch konnte vor der Ära Castro noch längst nicht von einer breiten Alphabetisierung der Unterschichten gesprochen werden. Diese blieb dem «Commandante» ein bedeutendes Anliegen.

Gegenüber seinem geistlichen Gesprächspartner Frei Betto rühmte er die aufopferungsvolle Arbeit der unentgeltlich unterrichtenden Ordensfrauen. Ähnlich wie der Aargauer Bildungspionier Heinrich Zschokke machte sich Castro keine Illusionen darüber, dass die allgemeine Schulpflicht nur auf Basis äusserst niedriger Lehrerlöhne praktikabel war.

Während der Schulferien hatten die Lehrkräfte noch anderen Aufgaben nachzugehen, etwa Touristenführungen oder Taxidiensten. Dasselbe galt seit eh und je für das Gesundheitspersonal, bei dem ebenfalls auf die Ressourcen katholischer Frauen zurückgegriffen wurde.

Nicht denselben Fehler wie Bally

Die «Madonna der Barmherzigkeit», die Patronin der Insel, blieb auch zu den atheistischen Zeiten der kubanischen Revolution hoch im Kurs. Der Kulturkämpfer Castro machte nicht den einstigen Fehler des ähnlich engagierten Schuhfabrikanten Bally in Schönenwerd SO (1871) oder der Christkatholiken von Magden AG, dem Volk die Muttergottes wegzunehmen. In Sachen Abschaffung oder Einschränkung von Feiertagen verstand er freilich keinen Spass. Wegen dem Planziel von 10 Millionen Tonnen Zuckerernte musste 1970 selbst an den Weihnachtstagen gearbeitet werden.

Eine solche Massnahme hätte sich in Lateinamerika kein katholisch-faschistischer Militärdiktator leisten können. Das Grossartige am Sozialismus lag unter anderem darin, dass auf Wünsche von Arbeitern und Gewerkschaften keine Rücksicht genommen werden musste, weil ja schliesslich alles der Arbeiterklasse zugutekam.

Nachdem in den ersten Jahren der Revolution voll auf Atheismus und Marxismus-Leninismus gesetzt wurde, entdeckte Fidel Castro spätestens in den 1980er Jahren die Theologie der Befreiung als geistiges Kampfmittel auf dem Weg zum Sozialismus. Ein hochinteressanter Text dafür sind die heute noch lesenswerten «Nachtgespräche mit Fidel» des brasilianischen Dominikanermönchs Frei Betto.

Dieser zeigte sich dem Urwaldrevolutionär gegenüber zwar nicht in jedem Punkt gleicher Meinung. Aber das doppelte Feindbild: Der Yankee einerseits, der damals im Bösewicht Ronald Reagan gipfelte, und der Kapitalismus andererseits präsentierten sich als gemeinsame Basis für eine altruistische christlich-sozialistische Weltanschauung mit «Christus als dem ersten Kommunisten», wie es der ungläubige Fidel Castro für die Propaganda auf den Punkt brachte. Dies drückte sich mit intensiven, autobiografisch untermalten Gesprächen mit Frei Betto aus.

Aargauer reisten nach Kuba

Davon liessen sich um 1985 die beiden Theaterschaffenden Hansrudolf Twerenbold aus Ennetbaden und Walter Küng aus Baden faszinieren. Nicht nur reisten sie nach Kuba, wo es zwar zu einer Begegnung mit dem «Commandante» Fidel nicht reichte. Sehr wohl aber dann 1985/86 zu nicht weniger als 60 Aufführungen der «Nachtgespräche» in Badens Kurtheater, in Zürich, St. Gallen, Luzern, Basel.

Nicht Propaganda für Fidel Castro und Kuba war gemäss Twerenbold das Anliegen, sondern die Theologie der Befreiung. Man setzte damals Hoffnungen auf die sandinistische Bewegung des nachmaligen Diktators Ortega in Nicaragua. Das zu bekämpfende Gegenbild waren die Folterdiktaturen in Chile und Argentinien. Davon war auch in den «Nachtgesprächen» die Rede.

Nicht zur Sprache kamen die Opfer der eigenen fortschrittlichen Diktatur. Diese betrugen in den ersten Jahren der Revolution und ihrer Verteidigung um die 15 000 Personen. Was Hinrichtungen von Konterrevolutionären betraf, hatte zumal der Argentinier Dr. Ernesto «Che» Guevara nicht wenig auf dem Kerbholz, bis hin zur Verabreichung des «Gnadenschusses» für die Opfer, die im Prinzip selber schuld waren.

Wie Fidel Castro, der zwar erst im Alter von sechs Jahren getauft wurde, war auch «Che» von einer zutiefst religiösen Erziehung geprägt. Im Oktober 1967, als er in Bolivien erschossen wurde, lauteten seine letzten Worte gemäss dem deutschen Autor Hans Magnus Enzensberger: «Ave Maria Purissima!» Auf diese tiefkatholische Weise ist wohl kaum je ein Schweizer Kulturkämpfer, etwa Klosterstürmer Augustin Keller oder Schuhfabrikant Carl Bally, ins Jenseits umgezogen.

Abzuklären wäre, ob und wie weit auch Fidel Castro in den letzten Stunden seines Lebens das Beten wieder gelernt hat. Von Josef Stalin weiss man über seinen Kammerdiener, dass er in den heikelsten Phasen des 2. Weltkrieges in der Kremlkapelle kniete und dort betete. Auch Scheusale können religiös sein.

Das Geschlecht der Edlen von Guevara, dem Castros Weggefährte «Che» entstammte, hat der Kirche manchen Grossinquisitor geschenkt. Gegenüber Frei Betto bekannte Kubas Diktator: «Ich habe keinen religiösen Glauben. Ich habe einen politischen Glauben.» Der Philosoph Eric Voegelin sprach in jenem Zusammenhang von «Sozialreligionen». Friedrich Nietzsche nannte diese Art Glaube den «unvollständigen Nihilismus».

Fidel Castro fuhr in der Schweiz als Schreckgestalt der Weltgeschichte wohl nie stärker ein als im Oktober 1962. Bei der sogenannten Kuba-Krise handelte es sich um den absoluten Höhepunkt des Kalten Krieges. Der Konflikt um die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba führte die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe. Unvergesslich blieb für den Schreiber dieser Zeilen, wie an der Bezirksschule Endingen Mathematik- und Geographielehrer Fridolin Ehrensperger seinen Schülern die Weltlage beibrachte. «An diese Tage werdet ihr euch vielleicht noch in 50 Jahren erinnern.»

Ehrensperger, der auch das Fach Physik unterrichtete, machte uns mit den Schrecken des Atomkrieges bekannt. Man dürfe sich von der Atomdrohung jedoch nicht einschüchtern lassen. Im Kampf um Sein oder Nichtsein komme es am Ende nach wie vor auf den «gezielten Einzelschuss» an. Die These Ehrenspergers wurde später durch Stanley Kubricks «Full Metal Jacket» – im wohl bedeutendsten aller Vietnamfilme – eindrücklich illustriert. Der Kleine, der sich wehrt, ist nie ganz chancenlos!

«Lernen wir morgen Russisch»

Zur Zeit der Kubakrise wurden 183 amerikanische Interkontinentalraketen mobilisiert und 1479 Langstreckenbomber. Präsident Kennedy stellte das gefährlichste Ultimatum aller Zeiten. Dass Nikita Chruschtschew, der starke Mann der Sowjetunion, dann im letzten Moment einlenkte, erfolgte zu einem Zeitpunkt, da im Einzugsgebiet dieser Zeitung die Läden in Sachen Notvorräten leergekauft wurden.

Nicht nur war man vom tollkühnen Mut des damals allgemein vergötterten Präsidenten Kennedy beeindruckt. Seit Sputnik und Jurj Gagarin, dem ersten Menschen im Weltraum, fürchtete man eine sowjetische technische Überlegenheit. Fridolin Ehrensperger zog vor den Viertbezlern didaktische Bilanz: «Lernen wir heute Mathematik und Physik – oder lernen wir morgen Russisch!» Der Satz blieb im Gedächtnis.

Bei der Ermordung von John F. Kennedy kamen unter den zahlreichen Theorien im Zusammenhang mit dem mutmasslichen Täter Lee Harvey Oswald, einem Kommunisten, stets Fidel Castro und Kuba als mögliche Täteroption infrage. Ob daran etwas wahr sein kann, wird wohl erst nach dem Untergang des Diktatursystems von Fidel und Raoul Castro historisch abgeklärt werden können.

Wer glaubt, das Kuba der Brüder Castro habe nichts mit einer totalitären Diktatur zu tun, dem sei über «youtube» die Dokumentation des Schauprozesses gegen den General und «Helden der Revolution» Arnaldo Ochoa Sanchez (hingerichtet am 13. Juli 1989) empfohlen. Kaum je war die Ähnlichkeit des kubanischen Systems mit dem nordkoreanischen so erschreckend offenkundig.

*Pirmin Meier ist Autor, Gymnasiallehrer und ehemaliger Redaktor im Aargau. Er versteht sich als «Kultur-Erzähler».