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Der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung im Alter: Das Surbtal schafft sein eigenes Vorsorgesystem

Die Pandemie hat deutlich gemacht: Nachbarschaftshilfe ist wichtiger denn je – nun wurde in den Surbtaler Gemeinden eigens der Verein KISS gegründet.

Susanne Holthuizen
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Der Vorstand des Vereins KISS Surbtal (von links): Rita Hanselmann (Lengnau), Elisabeth Huwyler (Präsidentin/Endingen), Daniela Büchi (Endingen).

Der Vorstand des Vereins KISS Surbtal (von links): Rita Hanselmann (Lengnau), Elisabeth Huwyler (Präsidentin/Endingen), Daniela Büchi (Endingen).

Samuel Huwyler

Als das öffentliche Leben Anfang April 2020 fast zum Stillstand kam und die Bevölkerung älteren Semesters schweizweit angehalten wurde, zuhause zu bleiben, lancierten die Surbtaler Gemeinden Endingen, Lengnau, Schneisingen und Tegerfelden kurzerhand einen Heimlieferdienst für Menschen mit Bedarf. Wer 65 und älter war oder an einer Vorerkrankung litt, konnte sich bei den örtlichen Detaillisten melden und eine Bestellliste abgeben.

Per Autokurier wurden die Waren kostenlos an ihre Bestimmungsorte ausgeliefert, die Gemeinden übernahmen die Kosten. Das Echo war überwältigend, eine nie dagewesene Solidaritätswelle erfasste das Tal. Die Endinger Gemeinderätin und Vizeammann, Rebecca Spirig, liess es aber dabei nicht bewenden, im Herbst 2020 initiierte sie eine kommunale Umfrage zum Thema «Bedürfnisse im Alter». Über 60 Personen im Pensionsalter und drüber nahmen daran teil. Die Befragung ergab, dass die Personen die Aufmerksamkeit, welche ihnen während des Lockdowns zuteil wurde, überaus schätzten – vor allem, dass sie nicht vergessen wurden, hat sie tief beeindruckt.

Der Wunsch, noch lange ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, steht denn auch ganz zuoberst auf der Liste der 60- bis 90-Jährigen. Der Seniorenrat Endingen, der seit März 2021 zu einer ständigen Kommission umgewandelt wurde, hat dem Gemeinderat eine fundierte Bedarfsanalyse samt Massnahmenkatalog vorgelegt. Ein besonderer Fokuspunkt bildet dabei die Nachbarschaftshilfe.

Stiftung bietet digitale und finanziell Hand

Wer im fortgeschrittenen Alter weiterhin zuhause leben möchte, ist meist auf Hilfe angewiesen – sei es im Alltag, in der Pflege oder ebenso gesellschaftlich. Auch die mit dem Alter einsetzende Vereinsamung ist ein grosses Thema. Der Seniorenrat ist der Meinung, dass mit einem generationenübergreifenden und freiwilligen Modell ein grosser Teil des selbstbestimmten Alterns zuhause abgedeckt und die Dienstleistungen bestehender Institutionen so optimal ergänzt werden können.

Auf der Suche nach Kooperationsmöglichkeiten ist der Seniorenrat auf die Fondation KISS gestossen. «Durch die Gründung von einem eigenständigen Verein erhalten wir Unterstützung von der Fondation KISS, die schweizweit tätig ist. Sie hilft uns bei der AufVbauarbeit und vermittelt finanzielle sowie digitale Ressourcen», erklärt Elisabeth Huwyler, die sich des Themas Nachbarschaftshilfe angenommen hat und mittlerweile dem eben neu gegründeten Verein KISS Surbtal vorsitzt.

Innovativ und geldfrei: Vom Einkauf bis zur Unterstützung kleinerer Reparaturarbeiten

Der Verein ist lokal ausgerichtet und soll auch jüngere Menschen ansprechen. Damit die freiwillige Unterstützungshilfe funktionieren kann, braucht es nebst den Empfangenden die Zeitgebenden. «Das können Personen aus verschiedensten Bereichen sein, die je nach Bedarf miteinander in Verbindung gebracht werden und als Tandem funktionieren – das kann vom Einkauf bis zur Unterstützung kleinerer Reparaturarbeiten gehen», führt Huwyler weiter aus. Den Unterstützungsbietenden wird ihr Einsatz dann in Form von einem digitalen Zeitbudget gutgeschrieben, entsprechend wird den Bezügern die Zeit abgezogen.

«Die Bilanz geht anfangs nicht ganz auf, vor allem bei den Anspruchstellenden nicht, aber darauf ist der Projekterfolg eh nicht ausgerichtet», meint die Initiantin der Nachbarschaftshilfe Surbtal. Vielmehr konnte festgestellt werden, dass Menschen, die sich freiwillig für andere Personen einsetzen, eine grosse Befriedigung aus ihrem Engagement erfahren und zum Teil ihr angespartes Zeitguthaben oft Bedürftigen verschenken.

Alle Mitglieder sind gleichzeitig Gebende und Nehmende, für die Teilhabe wird eine einmalige Einschreibegebühr von hundert Franken verlangt. Interessierte werden dann in einem Interview befragt und anschliessend einander vorgestellt. Nur wer sich findet und Vertrauen aufbaut, kann etwas füreinander bedeuten. Darauf baut die Nachbarschaftshilfe – ein innovatives und geldfreies Vorsorgesystem auf Zeit, das voll und ganz auf das menschliche Zusammenspiel setzt.