Flüchtlingsfamilie
Tunesien-Experte zum Fall Langenbruck: «Ich sehe eine Gefahr für die Kinder»

Der Basler Beat Stauffer kennt die Maghreb-Region genau. Er beurteilt die vom Bund geforderte Ausschaffung der Familie Mazin* nach Tunesien kritisch. Konvertiten leiden unter behördlichen Schikanen und gesellschaftlicher Diskriminierung. Nur in der Hauptstadt Tunis sei es sicher.

Michael Nittnaus
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Beat Stauffer gilt als Kenner der Maghreb-Staaten Nordwestafrikas und damit auch von Tunesien.

Beat Stauffer gilt als Kenner der Maghreb-Staaten Nordwestafrikas und damit auch von Tunesien.

Juri Junkov

Dass der Kanton Baselland die Langenbrucker Flüchtlingsfamilie Mazin* derzeit nicht ausschafft, obwohl der Bund dies seit 2016 verlangt, machte die «Schweiz am Wochenende» vergangenen Samstag publik. Umstritten ist vor allem die Frage, ob Tunesien ein sicheres Zielland für eine zum Christentum konvertierte Muslimin und deren Familie ist. Die bz fragt den Basler Journalisten und Maghreb-Spezialisten Beat Stauffer, wie er die Situation einschätzt.

Herr Stauffer, für das Staatssekretariat für Migration und das Bundesverwaltungsgericht ist der Fall klar: Tunesien sei ein sicheres Zielland. Ist es denn so einfach?

Beat Stauffer: Nein, es ist eine sehr komplexe Frage. Im Prinzip ist Tunesien seit langem eines der liberalsten arabisch-islamischen Länder und hat seit 2014 eine der fortschrittlichsten Verfassungen der arabischen Welt. Diese garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit. Sie beinhaltet aber auch Widersprüche, indem ein starkes Gewicht auf den Schutz der islamischen Identität von Tunesien gelegt wird. Es ist ein Kompromiss zwischen säkularen und religiös-konservativen islamistischen Kräften.

Genügt es denn, bei einer Bewertung vor allem auf die Verfassung zu schauen?

Ein Problem ist, dass die guten Grundsätze der Verfassung noch gar nicht alle in Gesetze gegossen wurden oder sie nicht konsequent angewendet werden. Darum ist es entscheidend, anzuschauen, wie die Religionsfreiheit im Alltag gelebt wird. Wie gehen die Behörden, wie die Gesellschaft in der Praxis mit Konversionen von Muslimen zum Christentum um?

Zur Person

Beat Stauffer gilt als Kenner der Maghreb-Staaten Nordwestafrikas und damit auch von Tunesien. Der freischaffende Basler Journalist unternimmt mehrmals pro Jahr Reisen dorthin und hat neben Zeitungsartikeln auch mehrere Bücher zur Region publiziert. Zuletzt erschien sein Buch «Maghreb, Migration und Mittelmeer». Der 66-Jährige verfasste vergangenen Oktober eine Kurzanalyse für eine Rechtseingabe der Familie Mazin*, legt aber Wert darauf, den Fall als unabhängiger Experte beurteilt zu haben. (mn)

Hayet Mazin* sagt, sie würde nach einer Rückkehr in Tunesien isoliert und bedroht werden – und das von ihrer eigenen Familie, da sie die einzige Konvertitin sei. Wie glaubwürdig ist das?

Diese Schilderung ist auf jeden Fall glaubwürdig. Fakt ist, dass die Konversion einer Muslimin zum Christentum – zumindest ausserhalb der tunesischen Hauptstadt Tunis – als Schande für die Familie angesehen wird. Konsequenzen können Enterbungen und der Ausschluss aus der Familie sein. Solche Befürchtungen sind plausibel.

Wäre es in Tunis sicherer?

Ich bin klar der Meinung, dass die Familie Mazin nur in der Region von Tunis leben könnte. Dort gibt es mehrere Tausend Konvertiten sowie viele afrikanische und europäische Christen und binationale Paare. Auch gibt es viele säkular denkende Menschen. In diesem Umfeld gäbe es eine gewisse Chance für die Familie, unterzutauchen.

Hayet Mazin stammt aus der Hafenstadt Sfax weiter südlich. Sie würde wohl dorthin zurückgeschickt.

Sfax ist auch eine relativ grosse Stadt, aber nicht mit Tunis vergleichbar. Dort zu leben wäre sehr viel schwieriger, da fast alle Konvertiten und Christen in Tunis sind. Je weiter man ins Hinterland geht, desto mehr Probleme gibt es als Nicht-Muslim.

Dann ist der Fall klar: Die Mazins können in die Region Tunis ziehen ...

Das Problem ist, dass die Familie keine wirtschaftliche Basis hat, um dort zu leben. Ich sehe nicht, wie das funktionieren könnte, da Joseph Mazin* aus Syrien stammt und auch Hayet über kein soziales Netz verfügt. Sie hätten keine Aussicht auf eine Stelle und somit könnten sie keine Existenz aufbauen.

Wir reden die ganze Zeit über Hayet Mazin als Konvertitin. Doch was ist eigentlich mit den beiden Buben? Sie sind mittlerweile drei und sechs, der jüngere kam in der Schweiz auf die Welt. Beide sind getaufte Christen.

Ich sehe eine gewisse Gefahr, vor allem wenn die Kinder in einer Kleinstadt oder auch in Sfax in eine öffentliche Schule gehen müssten. In einem Milieu also, in dem sie vielleicht die einzigen christlichen Kinder wären. Die liberal gesinnten Tunesier schicken ihre Kinder eigentlich fast alle in Privatschulen. Doch das ist eben sehr teuer.

Sind Ihnen Fälle bekannt, bei denen Konvertiten sogar tätlich angegriffen wurden?

Im Maghreb gibt es das auf jeden Fall, auch wenn ich gerade keinen spezifisch tunesischen Fall vor Augen habe. Es ist denkbar, dass bewusst Extremisten auf diesen Fall aufmerksam gemacht werden und diese dann die Familie angreifen.

Ist Ihrer Ansicht nach die Ausschaffung der Familie Mazin zumutbar?

Die Behörden müssen sich auf jeden Fall bewusst sein, dass ein Risiko besteht. Wie gross dieses ist, ist schwierig zu beurteilen. Es geht in Tunesien zwar nicht um Steinigungen oder Inhaftierungen, aber durchaus um behördliche Schikanen und gesellschaftliche Diskriminierung. Ich plädiere generell dafür, dass Europa die Maghreb-Staaten drängt, dass diese endlich die Religionsfreiheit, zu der sie sich schon seit 70 Jahren verpflichtet haben, auch in der Praxis garantieren. Tunesien und seine Nachbarn haben die UN-Menschenrechtskonvention unterschrieben, halten sich aber nicht daran. Deswegen ist es so heikel, eine Ausschaffung wie jene der Familie Mazin zu vollziehen.

Namen geändert.