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Wird Kuba durch die Öffnung von den US-Amerikanern übernommen? So wie vor der Revolution von Che Guevara und den Castro-Brüdern? Obama jedenfalls kommt demnächst vorbei, und die Rolling Stones geben ein Konzert gratis. Auf der Suche nach Antworten gerät unser Reporter ins berüchtigte Viertel San Miguel de Pardón in Havanna.
In San Miguel de Padrón wurde ein Kind geboren mit zwei Zähnen. San Miguel ist eins der ärmsten Viertel im Vorortgürtel von Havanna. «Sind Sie sicher, dass Sie da wirklich hinwollen?», sagt ein Bekannter. Aus San Miguel stammt jener Thaiboxer, der zwei Chevrolets aus den Fünfzigerjahren zum Boot umgebaut hatte, um zweimal nach Florida zu tuckern.
Er hätte es geschafft, hätte ihn die US-Küstenwache nicht zweimal abgefangen und beide genialen Vehikel versenkt. Sie hätten einen Platz verdient im Revolutionsmuseum. Genauso wie die «Granma»: jene Jacht, womit Fidel mit 82 Getreuen 1956 nach Kuba gelangt war, um durch Revolution eine neue Zeit zu begründen. Eine Gesellschaft mit gerechter Güterverteilung, getragen von eigens dafür geschulten Laborratten im ruralen Niemandsland, vom «neuen Menschen» (Che Guevara).
Den gezahnten Säugling erklären die Mütter in San Miguel mit dem Umstand, dass Babys neuerdings «immer reifer» auf die Welt kämen: «Manche haben schon die Augen offen!» Dem Kind verpassten sie sofort einen Übernamen: «Vampirito», der kleine Vampir. Der Name dürfte dem Unglücksraben haften bleiben, beim abergläubischen Kult, den vor allem farbige Kubaner um Zweit- und Übernamen treiben.
Gewiss aber bleibt «Vampirito» mir im Gedächtnis haften. Er bezeichnet mehr als nur Voodoo in San Miguel; der Name lässt sich aufs ganze Land beziehen.
Auf Kuba ist eine Zeit des «Vampirismo» angebrochen, mit mindestens zwei Zähnen. Nicht erst seit diesen Tagen, da Kuba den Besuch von Barack Obama erwartet, vom ersten US-Präsidenten seit 88 Jahren.
Einst organisierte er das Caliente-Festival in Zürich, das jeweils Zehntausende Besucher anzog. Dann zog Roger Furrer mit der Familie im letzten Juni aus – von Regensdorf ZH nach Havanna. Für ein Jahr, dachte er. Nun muss er länger bleiben. Eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt.
Der kubanische «Vampirito» ist mittlerweile fünfzehnjährig. Kein Kind von Traurigkeit mehr, sondern ein agiler, ausgekochter Schlingel. Er lebt nach der landläufigen Devise: «Was du kriegen kannst – ergreif es!» (Weitere Redensarten siehe rechts). Dieser Typ wurde 1991 aus der Not geboren, im «Periodo especial», in einer Hungerperiode. Damals sah sich das Castro-Regime gezwungen, den Leuten quasi Zähne zu verordnen, damit sie wieder etwas zwischen die Zähne kriegten. Wie das geht – zubeissen und vampirhaft saugen –, machte das Regime selber vor.
An allen Ecken und Enden begann ein Melken und Pressen, ein parasitäres Mitessen, wofür die kommunistische Bürokratie einen sagenhaften Einfallsreichtum entwickelte. Sie erfand eine Reihe von Gebühren, die sie in zuverlässiger Kadenz erhöhte. Vor jedem Passierschein türmten sich von Beamten-Speak nicht mal verbrämte, einfach nur noch schnöde Dollarhürden. Auch Touristen, diese Spezial-Milchkühe in der «Spezialperiode», gerieten in den Sog des Saugens. Mit masochistischer Lust lassen sie sich seither in Kuba den Tag lang ausnehmen wie Weihnachtsgänse. Um wie zwölfjährigen Rum einen letzten Schluck Socialismo einzuschlürfen, im einzig partytauglichen Wachsmuseum, das es hierfür gibt. Leiden müssen sie ja kaum deswegen, im Gegensatz zu den Kubanern.
Fidel war immer dagegen – gegen gelockerte Unternehmensfesseln und gegen die Gringos, seine Erzfeinde. Inwieweit Fidel den Besuch Obamas bei geistiger Klarheit miterlebt, ist Gegenstand der Spekulation, aber nicht von brennendem Interesse bei Kubanern. Sie haben den Comandante längst ins Nirwana gleiten lassen.
Anders als früher, da sie seine Macht pantomimisch darstellten, indem sie über einen imaginären Bart strichen, nennen sie heute Fidels Namen, sogar auf der Strasse. Und sagen laut auch: «Los Estados Unidos», die Vereinigten Staaten. Ein Reich, das früher nur mit «El Norte» umschrieben wurde. Emigranten sagten, sie gingen «in den Oriente, um das Coca-Cola der Freiheit zu trinken». Da wussten Eltern Bescheid und brachen in Tränen aus – ihre Kinder wagten sich aufs Meer.
Heute gibt es eine Lockerung. In bürokratisch genau 211 zugemessenen Kategorien. Darunter etwa jene, Feuerzeuge auf privater Basis wieder aufzufüllen. Hohe Steuern und gewohnt fintenreiche Auflagen dienen als Handbremsen, um einen unsozialistisch überhitzten Profitmotor notfalls auch wieder abzuwürgen. So geschehen mit dem wilden Kleiderhandel auf der Carlos III., vor der Revolution die bevorzugte Einkaufsmeile. Jener Markt war kurz, bunt und chaotisch, jetzt wieder ausgetrocknet – sprich in Kuba: weiter existent im halblegalen Dunst.
Niemand soll in Kuba ein fettes Unternehmerschwein werden wie in Karikaturen zur Zeit des guten alten Klassenkampfes. Aber es gab und gibt herrenmässige Profiteure. Zum Beispiel bei den Vermietern von Pensionen an Touristen: Unter luschen Vorwänden bauen Haie in Alt-Havanna bereits wieder Immobilien-Cluster auf. Oder das Beispiel «Classic Cars»: Innert Wochen verlor eine erstaunliche Menge der Flotte ihr Dach – fürs sonnige Sightseeing der Touristen. Plötzlich waren alle Taxifahrer. Einer aber hatte die pfiffige Idee, Classic Cars in einer Agentur zu sammeln und sie als Generalunternehmer auf Touri-Pirsch zu schicken.
Da angestellt ist heute auch Humberto, unser Fahrer in Havanna seit Jahren. Lebenslang war er mit einem toll in Schuss gehaltenen Chevrolet, Baujahr 1956, unterwegs – plus Taxi-Lizenz. Allerdings mit einer auf Einheimische beschränkten Lizenz. Chauffierte er Ausländer herum, riskierte er den Verlust seiner Lebensgrundlage. Jetzt ist er frei ..., um sofort angekettet zu werden an ein Unternehmen. «Warum kam dir nicht die Idee?», fragen wir. «Mir fehlte», antwortet Humberto, «zum Start die nötige Pinke-Pinke.»
Woher andere plötzlich viel Spielgeld haben, darüber zucken die meisten die Schultern. Was bedeutet: Sie wissen oder ahnen es, sagen aber nix. Es fliesst, auch dank Erleichterungen, jetzt viel Geld von Exilkubanern nach Havanna. Mit bizarren Begehren: So meldeten unter anderen die Erben von Meyer-Lansky Ansprüche an aufs Hotel «Riviera», einst das Nest des klassischen Casino-Mafioso.
Aber eine inner-kubanische Dimension ist nicht zu vergessen: Das Militär kontrolliert und managt mittlerweile sechzig Prozent der Wirtschaft. Wenn Kommissäre der Sowjetunion sich am Ende des Kalten Krieges flink den Nadelstreifen-Anzug übergestreift hatten, dann ist das in Kuba kapitalistische Lektion genug. Lehrreicher noch als die – stets ausgebuchten – Unternehmerkurse, welche die katholische Kirche da anbietet. Mithin sollte das Olivgrün der kubanischen Revolution doch auch beim Profit führungstauglich sein.
Die meisten Gewerbefreiheiten betreffen Taxis und Gastgewerbe. Private Restaurants, erst in der «Spezialperiode» zugelassen, schiessen wie Pilze aus dem Boden. Die Qualität ist oft beachtlich. Entsprechend schmieren die überteuerten staatlichen Restaurants fast schon erbärmlich ab.
Der ersten gastronomischen Freiheit verdankten schnell 150 Restaurants ihre Existenz, obwohl damals noch die Zahl der Sitzplätze auf zwanzig beschränkt gewesen war (mittlerweile frei). Das ging so schnell, dass ein Verdikt der Bürokratie damit sofort wieder aufräumte, vielleicht der Unerfahrenheit oder Panik geschuldet.
Nur sieben Restaurants überlebten jenen Schlag. Darunter das «Huron Azul» (heute staatlich). Das «Guarida» (berühmt geworden durch den Film «Fresa y Chocolate», darum rasch Treffpunkt von Fotomodels und Sternchen – «Rihanna in Havanna» –, wonach sich der verständige Gast vom Acker machte). Und das «Gringo Viejo» in Vedado, das erstaunlichste Haus von allen, wegen seines erstaunlichen Besitzers.
In den Jahren nach dem Hunger, noch heute Trauma der Kubaner, war Havanna beinahe dunkel, in Bezug auf schmackhafte Speise. Umso dankbarer war man für den Tipp der «New York Times», die Oase des «Gringo Viejo» aufzusuchen, des alten Amerikaners. Auch das war ein Film, 1989 erschienen, mit Gregory Peck in der Hauptrolle; den Roman dazu schrieb der Mexikaner Carlos Fuentes. Beide – Peck und Fuentes – standen eines Tages vor dem «Gringo Viejo». Eine Art Damaskus-Erlebnis für den Besitzer, Omar Germán Gonzalez Rodriguez (70).
Das Original-Filmplakat des «Gringo Viejo», schön ausgeleuchtet, hängt an der Wand. Pausenlos bespielen Videos mit US-Country und Hippie-Klassik den Raum (CCR, James Taylor, Eagles usw.). Auf vielen Fotos mit Prominenz trägt Omar Texanerhut. Ursprünglich Plastiker und Designer, für Kuba international unterwegs als Kultur-Delegierter, machte er das Diplom als Chef de Cuisine und Sommelier.
Im Nebenraum, engsten Freunden vorbehalten, zeigt er uns ein weiteres Glanzfoto, seinen grössten Schatz: einen Dodge Automatik, Baujahr 1954, den einzigen in Kuba. «El Gringo Viejo», den er eingestandenermassen verkörpert, ist Präsident der kubanischen Classic-Car-Vereinigung.
Doch erst nach dem Essen folgt die eigentliche Überraschung: Omar setzt sich mit zwei Gläsern schottischen Whiskys an unseren Tisch. Ohne Eiswürfel darin, das verrät den Kenner. Mit jedem Schluck wird ein Satz, den Omar oft wiederholt, nicht bloss rauchiger wie Whisky, sondern fauchig: «Los Gringos son una plaga!» – Die Amerikaner sind eine Plage.
Deutlicher haben wir das in Kuba während Jahren nie gehört, nicht privat. Hier, wo alles durchtränkt ist von Gringo-Style, lauscht man verdutzt den Worten: «Die Gringos infizieren alles. Gut, hat Kuba früh geschaltet und Europäer vor die Nase der Gringos gesetzt: die spanische Meliá-Hotelkette, Iberostar, das holländische Tulipan und so weiter. Sonst würden wir jetzt wieder amerikanisiert wie früher. Das ist vorbei – für alle Zeiten! Wenigstens dafür hat sich die Revolution gelohnt.»
Ist das viel – dieses «wenigstens»?
Es ist die Grundfrage jedes Reisenden, will er nicht bloss als Tourist durch exotische Kulissen stolpern: Wo suche ich das Wesen von Land und Leuten? Am besten wohl in der Sprache – überall. Ganz besonders aber in surreal anmutenden Formen der Realität, wie in Kuba. Als Spiegel ihrer Eigenwilligkeit präsentieren wir hier eine Auswahl kubanischer Redewendungen:
Der Comandante
Vor dem Restaurant warten ein Dutzend Männer in privaten Wagen, ohne Taxischild. Vermittler schleppen die heraustorkelnden Opfer der Völlerei zu den Autos. Es ist zwecklos, auf eigene Faust mit Fahrern zu verhandeln. Ohnmächtig sinken wir in die uns zugelotste Kiste, nicht aber ohne Murren: «Klasse Kumpel, klasse abgekartet.» Der Fahrer lacht: «Organisation ist alles! Hat uns der Comandante gelehrt.» Fidels Lehre in Socialismo – für erste Schritte im Capitalismo.
Auf Schusters Rappen
An einer anderen Ecke kennen wir den Tarif, der gewöhnlich erhoben wird für die Fuhre ins nächste Quartier. Ganz gewitztes Kind, fragen wir nach, vor Antritt der Fahrt. Der Mann verblüfft mit dreifach höherem Preis. «Wenn Sie drauf bestehen», sagen wir, «halten wir uns daran» – und zeigen auf die Schuhe. Und wieder lacht der Mensch: «La defensa es permitida» – sich zu verteidigen, ist erlaubt.
Devisen schieben
Sie sind um keinen Kopf kürzer geworden: Die Warteschlangen vor den Banken, vor den Wechselschaltern – und gelten auch für Touristen. Im Fünf-Sterne-Hotel dann aber als Schalterbeamtin mit unbeeindruckter Miene an der Schlange vorüberzugehen in die Pause, ist eine besonders kühne Nummer. Eine halbe Stunde bereits haben wir gewartet. «Skandalös», beschweren wir uns, «wie Sie hier Leute behandeln, die nichts von Ihnen wollen, aber Ihnen eine Menge Devisen rüberschieben.» – «Daran sind nicht wir schuld», sagt die Genossin der Wechselstube. «Vielleicht könnten Sie es höheren Orts mal melden.» Jetzt erst würdigt sie uns eines Blicks, müde, als wäre sie der Tod: «Was man sieht, sagt man nicht.»
Meister des Piropo
Sehen und kommentieren – das tun Kubaner durchaus: Dort, wo sie weibliche Schönheit rühmen, davon ja verwöhnt genug. Freilich fallen «Piropos» (Kompli-mente) heute seltener. Die Männer, klagen Kubanerinnen, seien zotig und vulgär geworden, haben sich offensichtlich angepasst an die globale Gosse. Einen Meister aber fanden wir noch: Schwerbauchig, augenscheinlich auch etwas schwer von Begriff, glaste er auf ein Strandmädchen in der Sonne. Sie trug einen blauen, sehr knappen Bikini. «Ach», seufzte der Dicke, «so wenig Blau für so viel Himmel!»
Die Ohren voll
Der am meisten verbreitete Stossseufzer aber tönt so: «No es facil» – es ist nicht einfach. Das hat etwas lahm Philosophisches wie das «C’est la vie» der Franzosen, füllt auch nur die Luft mit Silben wie das italienische «ormai» oder «magari». Seine Verwendung hingegen ist ungleich inflationärer. Vom Aufstehen morgens bis zum Zähneschrubben nachts sagt der Kubaner tausendmal: «No es facil.» Man kann erzählen, was man will: Als Erstes – gleich auch abschliessend – fällt die Bemerkung: «No es facil». Wie wahr! Den Tag lang damit die Ohren vollgekleistert zu bekommen, zersetzt das Klischee von der fröhlichen Zuckerinsel schneller als hundert Jahre «Patria o Muerte!» – Vaterland oder sterben.