Johnson im Gegenwind: Selbst die Unterstützung seiner eigenen Fraktion ist ihm nicht mehr sicher

Nach der Sommerpause muss Englands Premierminister Boris Johnson erste Rückschläge einstecken.

Sebastian Borger aus London
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Muss nun auch Abgänge in der eigenen Partei verkraften: Premier Boris Johnson. (Bild: Keystone)

Muss nun auch Abgänge in der eigenen Partei verkraften: Premier Boris Johnson. (Bild: Keystone)

In seinen mehr als neun Jahren als britisches Kabinettsmitglied galt Philip Hammond stets als langweiliger Technokrat. Ob Verkehr, Verteidigung, Aussenpolitik oder zuletzt Finanzen: «Tabellen-Phil», so sein Spitzname, tat mit kühler Effizienz seinen Job. Rhetorische Glanzlichter waren nicht zu erwarten.

Seit Boris Johnson vor sechs Wochen Premierminister wurde, gehört der 63-Jährige mit den eisgrauen Haaren zu den Hinterbänklern der konservativen Fraktion. Als Hammond am Dienstag in der Debatte über Johnsons Regierungserklärung zum G7-Gipfel das Wort ergreift, hält das Hohe Haus darum die Luft an. Es spricht, kein Zweifel, der neue Oppositionsführer: Anders, als von seinem «sehr ehrenwerten» Parteifreund behauptet, erklärt Hammond, gebe es keinerlei Fortschritt in den Verhandlungen über den EU-Austritt.

Der Angesprochene weicht aus, wie er zuvor schon den Nachfragen des nominellen Oppositionsführers und Labour- Vorsitzenden Jeremy Corbyn sowie anderer Parlamentarier ausgewichen ist. Johnson ist nicht in Form, die Reaktion seiner konservativen Abgeordneten lässt es erkennen.

Philip Hammond. (Bild: EPA)

Philip Hammond. (Bild: EPA)

Gleich zu Beginn seines Statements schreitet ein hochgewachsener schlanker Mann in den Saal, wendet, erklimmt die Stufen zur dritten Bank und nimmt neben der liberalen Parteichefin Jo Swinson Platz. Auf unverkennbar englisch-theatralische Weise hat Phillip Lee seinen Übertritt von den Torys zu den Liberaldemokraten demonstriert und damit dem Premier die Show gestohlen – und die knappe Mehrheit im Unterhaus.

Premier hält definitiv an Austrittsdatum fest

Im Lauf des Abends, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe, wollte eine Partei-übergreifende Allianz, unterstützt von rund 15 Tory-Rebellen, die normalerweise bei der Regierung liegende Hoheit über die Tagesordnung an sich bringen. Ihr Ziel: den von Johnson als letzten Ausweg propagierten No Deal illegal zu machen. Wenn beim EU-Gipfel Mitte Oktober keine neue Vereinbarung getroffen werde, müsse der Premierminister in Brüssel um weiteren Brexit-Aufschub bis Ende Januar bitten.

Das werde er «unter keinen Umständen» tun, beteuert der 55-Jährige und denunziert das geplante Gesetz der AntiChaosallianz als «Jeremy Corbyns Kapitulationsgesetz: Er hisst die weisse Fahne». Der solcherart Beleidigte bleibt ganz kühl. Johnson solle über seine Formulierungen nachdenken, sagt Corbyn und zitiert genüsslich aus einem spektakulären Interview Hammonds im BBC-Radio vom selben Tag.

Hinterbänkler macht Premier Beine

Darin elektrisiert der vermeintliche Langweiler die politische Elite des Landes, indem er seinen Parteichef der Schwindelei bezichtigt: Natürlich strebe Boris Johnson, entgegen allen Beteuerungen vom Montagabend, eine Neuwahl an. «Unehrlich» sei auch, wenn der Regierungschef den Leuten Fortschritte in den Gesprächen über den EU-Austritt vorgaukele.

Dann kommt Philip Hammond zum Kern der BrexitDebatte. Obwohl eigentlich für den Verbleib im Brüsseler Club habe er das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptiert. Wenn Johnson nun jene konservativen Abgeordneten aus der Partei werfen wolle, die sich im Unterhaus gegen den Chaos-Brexit wenden – dann sei das «übelste Heuchelei». Schliesslich hätten acht derzeitige Minister immer wieder gegen die eigene Partei und Regierung gestimmt. Hammond erwähnt Johnsons Namen nicht, aber alle Interessierten wissen: Der Premierminister gehört dazu.

In der gestrigen Debatte, dem ersten Sitzungstag nach der Sommerpause, sieht sich Johnson einer Wand aus Abgeordneten gegenüber. Auch der Unterstützung seiner eigenen Fraktion ist er sich nicht mehr sicher. Also gibt es Neuwahlen, die er angeblich nicht will?

Politologe John Curtice von der Glasgower Strathclyde University nennt eine um zweieinhalb Jahre vorgezogene Neuwahl «ein erhebliches Risiko für Johnson». Zwar liegen die Torys derzeit mit bis zu 34 Prozent um durchschnittlich acht Punkte vor der Labour-Party; doch könnten die erstarkten Liberaldemokraten (19) und die in Schottland an der 50-Prozent-Marke kratzende Nationalpartei SNP der Regierungspartei rund 20 Sitze abjagen.

Die neue Stärke der Konservativen geht Politologe Curtice zufolge fast ausschliesslich auf das Konto von Anhängern der Brexit-Party, die bei der Europawahl im Mai 30,5 Prozent holte. Dass trotz Nachteilen beim Wahlsystem 13 Prozent das neugegründete Vehikel von Nigel Farage wählen wollen, könnte in knappen Wahlkreisen die konservativen beschädigen.

Zu ihnen wird nach dem Willen der lokalen Parteigliederung bald auch Philip Hammond gehören: Am Montagabend wurde der Abgeordnete erneut nominiert. Downing Street habe keine Handhabe gegen ihn, sagt Hammond: «Dies ist seit 45 Jahren meine Partei.» Sollte Johnson doch versuchen, ihn loszuwerden, «dann steht ihm der Kampf seines Lebens bevor».