Litauen
Stille Botschaft an die Passagiere des Zugs nach Kaliningrad: «Putin tötet Zivilisten – bist du damit einverstanden?»

Zweimal täglich fährt der Zug nach und von Kaliningrad im Bahnhof Vilnius ein. Plakate über russische Kriegsverbrechen konfrontieren die Passagiere. Und jeden Tag kommt auch die 71-jährige Antonina Danshina aus der Ukraine für den russischen Zug zum Bahnhof.

Christoph Reichmuth, Vilnius
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Plakataktion mit schwer erträglichen Bildern. Auf kyrillisch steht die Botschaft: «Gerade jetzt tötet Putin friedliche Zivilisten. Bist du damit einverstanden?»

Plakataktion mit schwer erträglichen Bildern. Auf kyrillisch steht die Botschaft: «Gerade jetzt tötet Putin friedliche Zivilisten. Bist du damit einverstanden?»

Christoph Reichmuth/04.04.2022

Es ist kurz nach 10 Uhr, Montag, 4. April. Der Zug aus St.Petersburg hat mehr als eine halbe Stunde Verspätung. Gleis 4, Hauptbahnhof Vilnius, Litauen. Die Verspätung, eigentlich ein Klacks, wenn man bedenkt, dass die Abfahrt in St.Petersburg 18 Stunden zurückliegt. Das Ziel des Zuges: die russische Enklave Kaliningrad, 370 Kilometer westlich von Vilnius an der Ostsee gelegen.

Der Zug der russischen Bahn fährt quasi durch das Land der Feinde, durch einen «unfreundlich gesinnten Staat», wie der Kreml auch Litauen bezeichnet, den baltischen Staat mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern, der im Osten und Süden an das mit Russland befreundete Belarus grenzt. Die drei baltischen Staaten, so fürchten hier viele, sollen in den nationalistischen Fantasien des Kreml-Herrschers Putin eigentlich Teil eines neuen, grossen Russlands sein.

Die Angst in Vilnius, dieser pittoresken Stadt mit kopfsteingepflasterten Strassen und seinen hübsch herausgeputzten mittelalterlichen Häusern, dass Russland demnächst auch ihr Land ins Visier nimmt, ist allgegenwärtig. Will Putin einen direkten Korridor zur Enklave Kaliningrad? Will er Litauen, Lettland und Estland zurück in das neue russische Imperium holen?

Breite Solidarität mit der Ukraine

Litauischer Protest vor der russischen Botschaft in Vilnius: Aktivistinnen und Aktivisten mahnen an die vielen Toten in der Ukraine, der rot gefärbte See soll das viele Blut symbolisieren, das in dem Krieg geflossen ist.

Litauischer Protest vor der russischen Botschaft in Vilnius: Aktivistinnen und Aktivisten mahnen an die vielen Toten in der Ukraine, der rot gefärbte See soll das viele Blut symbolisieren, das in dem Krieg geflossen ist.

Mindaugas Kulbis / AP/07.04.2022

Vor gefühlt jedem dritten Gebäude in Vilnius hängt eine Flagge oder ein Plakat in den blau-gelben Landesfarben der Ukraine. Restaurants, Hotels, Bars rufen zur Solidarität mit dem überfallenen Staat auf, auf Schriftzügen wird gegen den Krieg aufgerufen. Fast täglich kommt es in der Stadt zu Protestkundgebungen gegen den russischen Krieg. 14 Prozent der litauischen Bevölkerung sind Russen, 5 Prozent Belarussen, die meisten von ihnen leben in der Hauptstadt mit ihren 500’000 Bewohnern.

Wie sie über den Krieg denken, das ist kaum abzuschätzen. Sie nehmen die litauische Solidarität mit der Ukraine und den gleichzeitigen Argwohn, inzwischen wohl eher schon Hass gegenüber Russland still zur Kenntnis. Andere verkriechen sich ins Private, wieder andere verurteilen, was im Namen ihres Mutterlandes geschieht. Litauens Staatspräsident Gitanas Nausėda sagte kurz nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine:

«Wenn die Ukraine heute fällt, dann steht Putin morgen vor unserer Tür.»

So wie der Staatspräsident denken hier viele. Wäre Litauen nicht Teil der Nato, das Land müsste mit dem Schlimmsten rechnen.

Der Zug mit seinen in den russischen Landesfarben weiss, blau und rot gehaltenen Schlafwaggons steht schon einige Minuten still am Gleis 4 von Vilnius. Niemand steigt ein, niemand steigt zu. Das war vor Corona anders, und seit dem Krieg ist ohnehin nichts mehr, wie es mal war. Zweimal täglich fährt der russische Zug hier durch, einmal morgens auf dem Weg nach Kaliningrad, am späten Nachmittag von dort zurück über Litauen und Belarus nach Russland. Ein russischer Zug, der täglich zweimal sieben Minuten still im Hauptbahnhof von Vilnius steht.

Gespenstische Szenerie am Bahnhof von Vilnius.

Video: Christoph Reichmuth/04.04.2022

Litauische Aktivistinnen und Aktivisten haben sich überlegt, wie sie die Zeit nutzen könnten, um eine Botschaft zu platzieren. Seit dem 24. März sind nun auf beiden Seiten des Geleises insgesamt 24 Plakate angebracht. Plakate mit schrecklichen Fotos. Schwerverletzte Kinder mit zerfetzten Beinen, Männer und Frauen mit blutüberströmten Gesichtern, eine Familie, die mit wenigen Habseligkeiten durch eine Trümmerlandschaft flieht. Bilder voller Leid. Bilder von Kriegsalltag in der Ukraine. Auf den Plakaten stets der gleiche Satz, in kyrillischer Schrift:

«Gerade jetzt tötet Putin friedliche Zivilisten. Bist du damit einverstanden?»

Es ist ein Versuch, gegen die Kreml-Propaganda anzuarbeiten, die Menschen, die aus ihren Fenstern des russischen Zuges nach draussen sehen, wachzurütteln.

Mantas Dubauskas, der Medienbeauftragte der litauischen Bahn, führt uns über das Perron, erzählt von den Reaktionen der Menschen im Zug. «Manche zeigen uns den Stinkefinger, andere ziehen die Vorhänge zu, wieder andere rufen ‹es lebe Russland!›», erzählt der 41-Jährige. Auch an diesem Montag ist kaum eine Reaktion zu erkennen. Die meisten Passagiere haben die Vorhänge in ihren Waggons zugezogen, wenige schauen sich an, was auf den Plakaten geschrieben steht. «Die ehrlichsten Reaktionen haben wir dann, wenn hier keine Kamerateams herumstehen», sagt Dubauskas. «Viele haben scheinbar Angst, dass sie gefilmt werden.»

Tatsächlich ist auch an diesem Montag ein Kamerateam am Bahnhof Vilnius. Eine Crew junger litauischer Filmschaffender, die an einem Dokumentarfilm darüber arbeiten, wie ihre Heimat mit der Kriegsgefahr umgeht. Nur kurz schaut die Schaffnerin aus dem Waggon. Als wir uns ihr nähern und auf das gegenüber hängende Plakat mit der Kriegsfotografie zeigen, scheint sie zu schimpfen. Da sie Russisch spricht, lässt sich der Inhalt des Gesagten nur erahnen. Heftig gestikuliert sie, als wir sie mit dem Handy filmen wollten.

«Es ist so viel Leid» – Antonina Danshina kommt jeden Tag zum Bahnhof Vilnius, um zu protestieren.

«Es ist so viel Leid» – Antonina Danshina kommt jeden Tag zum Bahnhof Vilnius, um zu protestieren.

Christoph Reichmuth/04.04.2022

Es gibt hier nicht nur den stillen Protest der Kriegsfotografien. Auf dem gegenüberliegenden Perron läuft die 71-jährige Antonina Danshina auf und ab, schwenkt für die Zugpassagiere gut erkennbar eine kleine ukrainische Fahne. Sie ist vor einigen Tagen aus dem südlich von Kiew gelegenen Cherkasy zu ihrer hier lebenden Enkelin geflüchtet. «Unsere Ukraine wird zerbombt, Kinder werden getötet, die Krankenhäuser brennen», sagt sie. Ihre Stimme bricht, als sie hinzufügt: «Es ist so viel Leid.»

Täglich kommt sie zum Bahnhof, um ihrem Protest gegen das russische Vorgehen Ausdruck zu verleihen. Sie hätte nur schon etwas erreicht, wenn einer der Zuginsassen die Putin-Propaganda etwas kritischer betrachten würde durch ihre Manifestation, sagt sie. Sie erinnert sich an die Zeit, als Ukrainer und Russen befreundete Nationen waren, vor 2014, vor der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass. «Wir waren Freunde, hatten in Russland Verwandte», sagt sie und beginnt zu weinen.

«Wie können unsere Jungs heute aufeinander schiessen?»

Es ist viertel nach zehn. Der Zug nach Kaliningrad setzt sich langsam in Bewegung. 370 Kilometer bis in die Enklave. Am späten Nachmittag wird er wieder hier vorbeifahren, auf dem Weg zurück nach Russland. Antonina Danshina wird dann auch wieder hier stehen und ihre ukrainische Fahne schwenken. Und bald schon wollen die Aktivisten ihre Plakate auch am Grenzbahnhof an der Grenze Litauens zur Enklave anbringen. Dort hält der Zug nämlich ganze 30 Minuten. Zweimal täglich. Eine Stunde Zeit, um eine starke Botschaft anzubringen.