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In London versuchen Parlamentarier mehrer Parteien ab heute, den «No Deal»-Kurs des Premiers zu stoppen.
Die Parteien in Grossbritannien rüsten sich für Neuwahlen. Das Kabinett von Boris Johnson beriet am Montag über einen vorgezogenen Urnengang im Herbst. Damit will der Premierminister seine drohende Entmachtung durch eine überparteiliche Allianz verhindern und den EU-Austritt zum geplanten Termin Ende Oktober vollziehen können. Genau das wollen Johnsons Gegner im Unterhaus verhindern. Heute läuft der Parlamentsbetrieb wieder an, bevor die Abgeordneten Mitte September in die Zwangspause geschickt werden. In der kurzen Zeit wollen die Oppositionsparteien und rebellische Konservative ein neues Gesetz erlassen, um den chaotischen «No Deal»-Brexit zu verhindern und den Austritt Grossbritanniens aus der EU aufzuschieben.
Dazu müssen die Rebellen zunächst die Hoheit über die Tagesordnung gewinnen. Erst dann könnte ein entsprechendes Gesetz zur Abstimmung gebracht werden. Ähnliche Initiativen wurden vor dem jüngsten Austrittstermin im April mit einer einzigen Stimme Mehrheit angenommen.
Für das Gelingen ihres Vorhabens ist die Anti-Chaos-Allianz auf das Wohlwollen von Speaker John Bercow angewiesen. Dieser hatte Johnsons Zwangspause fürs Parlament als «Verfassungsfrevel» gebrandmarkt. Sollten sich die Abgeordneten von Labour, Liberaldemokraten, schottischen und walisischen Nationalisten plus der einzigen Grünen mit einer Handvoll Unabhängiger sowie rund zwei Dutzend konservativer Rebellen einig sein, stehen die Chancen gut.
Am Mittwoch soll das Gesetz im Unterhaus, am Donnerstag im Oberhaus verabschiedet werden. Spätestens am Montag könnte Elizabeth II ihr «königliches Plazet» (royal assent) erteilen. Damit wäre die von der Regierung verordnete Zwangspause umgangen.
Johnson hat stets argumentiert, «No Deal» müsse als Drohung an die EU erhalten bleiben, damit die Verbündeten einer Änderung des Austrittsvertrages zustimmen. Dabei geht es vor allem um die irische Auffanglösung (backstop), mit der die innerirische Grenze offengehalten werden soll. Damit das möglich ist, müsste ganz Grossbritannien weiterhin den Binnenmarkts- und Zollregeln der EU unterworfen bleiben. Brüssel hat die von Johnson verlangte Streichung der entsprechenden Passagen abgelehnt.
Bis Montag Abend sagte der Premierminister öffentlich nichts zur aktuellen Situation zu Wort. Hingegen machten anonyme Quellen, angeführt wohl von Johnsons Chefberater Dominic Cummings, diverse Massnahmen publik, mit denen Johnson die Abtrünnigen aus den eigenen Reihen bestrafen will. So sollen rebellierende Konservative aus der Fraktion ausgeschlossen und an einer erneuten Kandidatur fürs Unterhaus gehindert werden. Diese faktische Zerstörung ihrer politischen Karriere beträfe mehrere prominente Konservative, darunter Winston Churchills Enkel Nicholas Soames.
Offenbar schliesst die Regierung auch die Verletzung von Konventionen nicht aus. Der für die Brexit-Vorbereitung zuständige Kabinettsminister Michael Gove sorgte für Entsetzen, als er in einem BBC-Interview das Versprechen verweigerte, dass sich die Regierung an das etwaige Chaos-Blockadegesetz halten würde.
Die Opposition denkt derweil laut über ein Misstrauensvotum nach. Freilich müssten die beteiligten Fraktionen sich nach erfolgreicher Abstimmung auf einen Übergangspremier einigen. Das scheitert bislang daran, dass der Altlinke Jeremy Corbyn auf seiner eigenen Wahl beharrt. Diese kommt weder für die konservativen Rebellen noch für andere Parteien in Frage.
Premier Johnson bereitet sich trotzdem schon mal auf eine mögliche Wiederwahlkampagne vor. In der konservativen Parteizentrale basteln die PR-Strategen an einer Wahlkampagne, deren Motto «das Parlament gegen das Volk» lauten soll. Johnson soll als Brexit-Volkstribun auftreten, der den zögerlichen Abgeordneten im Unterhaus Beine macht. Befürworter der waghalsigen Strategie verweisen auf die verheerenden Sympathiewerte für Oppositionsführer Corbyn. In Umfragen der vergangenen Tage verzeichneten die konservativen Torys einen Vorsprung von bis zu zehn Prozent vor Corbyns Labour-Partei.