Das Attentat von Kongsberg reisst alte Wunden auf und könnte das Land zum Umdenken zwingen, prophezeit die Terror-Expertin.
Miriam Einangshaug sass in einer Sitzung, als um 18.30 Uhr eine Push-Nachricht auf ihrem Smartphone auftauchte. Sie las von Toten und Verletzten in der Kleinstadt Kongsberg 80 Kilometer südwestlich von Oslo und von einem Täter, der mit Pfeil und Bogen Jagd auf Menschen machte.
Die 26-Jährige rannte vor etwas mehr als zehn Jahren am 22. Juli 2011 auf der Insel Utǿya selbst um ihr Leben, als der Rechtsextremist Anders Behring Breivik 69 Menschen eines Sommerlagers der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF erschoss. «Kongsberg ist eine kleine Stadt. Jeden dort trifft dieses Attentat», sagt Einangshaug. Sie befürchtet, dass der jüngste Angriff auch jenen wieder den Boden unter den Füssen wegreissen könnte, die noch immer mit den Bildern vom Mordanschlag auf Utǿya zu kämpfen haben.
Am Mittwochabend, gut zehn Jahre nach dem Anschlag von Breivik, schoss ein 37-jähriger dänischer Täter in Kongsberg zunächst Pfeile auf ein Bürogebäude ab. Dann stürmte der Schütze einen Supermarkt und zielte wahllos auf die Kunden. Vier Frauen und ein Mann starben, zwei weitere wurden schwer verletzt. Die Polizei überwältigte den wegen Diebstahls und Drohungen vorbestraften Schützen um 18.47 Uhr. Der Mann gestand die Tat.
Der lokale Polizeipräsident Ole Bedrup Soverud erklärte, dass die Behörden den Dänen wegen einer islamistischen Radikalisierung im Blick hatten. Er habe auch mehrmals den norwegischen Gesundheitsdienst kontaktiert. Weshalb genau, blieb weiter unklar. Die Tat ereignete sich nur einen Tag vor der Vereidigung des neuen norwegischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Stǿre von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Die norwegische Schriftstellerin und Terrorismus-Expertin Erika Fatland sagt zum Attentat: «Im Moment ist noch unklar, ob es Terrorismus war, etwas Psychisches oder etwas Anderes.» Ohnehin seien die Grenzen fliessend. Fatland hat schon wenige Monate nach Utǿya die Zeugnisse der Überlebenden gesammelt und in dem auch auf Deutsch erschienen Buch «Die Tage danach» veröffentlicht.
Gleichgültig, welches Motiv den Mörder von Kongsberg antrieb: Der Vergleich zu Anders Behring Breivik hinke.
«Die Tat scheint mir nicht so sorgfältig geplant, wie es Breivik getan hatte.»
Eine Parallele aber gebe es bestimmt, sagt Fatland: Die Norweger würden auch diesmal wieder Fragen stellen zum Sicherheitsapparat, der sie doch eigentlich beschützen sollte.
Anders Behring Breivik kaufte vor den Anschlägen 2011 fast eine Tonne Kunstdünger. Aber niemand fragte danach, was er mit dem auch für die Herstellung von Sprengstoff geeigneten Material anstellen wollte. Auch der Täter von Kongsberg war aktenkundig. «Ich erwarte eine Debatte darüber, ob die Sicherheitsorgane schnell genug gehandelt haben», sagt Fatland.
Auch das weltweit als so fortschrittlich geltende Sozialsystem Norwegens könnte erneut auf den Prüfstand geraten. «Kann es sein, dass unsere Dienste Warnsignale übersehen, wenn es um auffällige Menschen geht?», fragt Fatland.
Dass diesmal eine beschauliche Kleinstadt das Ziel war, sei für Norwegen ein Schock. Die Norweger hätten nach 2011 entschieden, gelassen zu reagieren und ihr Selbstbild als friedliche Nation zu bewahren. Bis auf Poller in der Innenstadt von Oslo findet sich tatsächlich wenig von dem, was in anderen europäischen Ländern zur Abwehr der Terrorgefahr längst alltäglich geworden ist.
Erika Fatland und die Überlebenden von Utǿya haben im Gedenkjahr 2021 die Polarisierung der norwegischen Gesellschaft beklagt. Breivik-Opfer, die sich öffentlich zu Wort melden, erhielten Drohungen. Der politische Diskurs in Norwegen über die Anschläge von vor über zehn Jahren und andere Reizthemen wie Migration und Islam wird zuweilen bitter geführt. Die Parlamentswahlen am 13. September entschieden die Parteien der politischen Mitte allerdings deutlich für sich.
Wie Norwegens Gesellschaft den Schlag eines Angriffs mit islamistischem Motiv zehn Jahre nach dem Blutbad des Islam-Hassers Anders Behring Breivik parieren wird, ist unklar. Fatland sagt: «Ich glaube, die Debatte würde jetzt viel hässlicher werden, wenn es ein Migrant und nicht ein Skandinavier gewesen wäre.», sagt Fatland. Sicher scheint nur: Ein weiterer Attentäter hat Norwegen wieder mitten ins Herz getroffen.