«Stärkster Wolkenbruch seit Menschengedenken»: Sintflut über der Riviera

Schwere Überschwemmungen haben im Hinterland von Nizza ganze Dörfer verwüstet. Nach Regenfällen wie noch nie werden in Frankreich und Italien zahlreiche Personen vermisst.

Stefan Brändle aus Paris
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Zusammengebrochene Brücke über der Vésubie: Regenfälle in Südfrankreich und Italien richteten enorme Verwüstungen an.

Zusammengebrochene Brücke über der Vésubie: Regenfälle in Südfrankreich und Italien richteten enorme Verwüstungen an.

Bild: epa

Es war, als wäre ein riesiger Wasserhahn geöffnet worden: Binnen weniger Stunden ergoss sich mehr Regen über das Grenzgebiet von Frankreich und Italien als sonst in einem ganzen Jahr. Als Folge schwollen kleine Gebirgsflüsschen wie die Vésubie - die im Sommer fast versiegt war - zu reissenden Sturzbächen von zehn bis zwanzig Meter Breite an. Die Wassermassen rissen ganze Gebirgsflanken mit, brachten viele Strassenabschnitte und einige Brücken zum Einsturz.

Mehrere Häuser und noch mehr Autos wurden von den Strudeln wie Spielzeuge verschlungen. In einem Fall mussten Nachbarn zusehen, wie ein isoliertes Wohnhaus, in dem ein älteres Paar Lichtsignale sendete, stückweise auseinanderbrach und schliesslich in den Fluten versank. Von den zwei Bewohnern fehlt jede Spur.

Frankreichs Regierung bietet die Armee auf

Nach dem Ende des Unwetters wurden am Wochenende vorerst drei Todesopfer gezählt – zwei Feuerwehrleute auf italienischer Seite, einer in Frankreich. Mehrere Dutzend Personen wurden vermisst. Bis am Sonntag reduzierte sich ihre Zahl, ohne dass die Zahlen der Todesopfer und der Verletzten feststand.

Viele Einwohner verloren ihr ganzes Hab und Gut. Lebensmittel, Trinkwasser und Strom fehlten in mehreren Dörfern. Die französische Regierung bot die Armee auf, um den versehrten Gebieten erste Hilfe zu bringen und nach Überlebenden zu suchen. Tausend Feuerwehrleute versuchten ebenfalls, in die teils entlegenen Dörfer vorzudringen. Unterhalb des Bergortes Riplas war die Zubringerstrasse aber an mehreren Stellen unpassierbar. Dazwischen blockiert, mussten Autofahrer mehr als 24 Stunden ohne Essen und Trinken auskommen.

Auch das Ausmass der materiellen Schäden war am Sonntag offen. Die Sturzfluten überschwemmten teils ganze Orte wie Limone Piemonte in Italien oder Saint-Martin-Vésubie in Frankreich. Sie hinterliessen eine kniehohe Schlammschicht. In Italien verlangten die Vorsteher der betroffenen Regionen Ligurien und Piemont, dass sie von der Regierung in Rom zum Notstandsgebiet erklärt würden.

Stärkster Wolkenbruch seit Menschengedenken

In Frankreich dürfte das Departement Alpes-Maritimes zum Katastrophengebiet erklärt werden. Der dramatische Wolkenbruch gilt in der Region als der stärkste seit Menschengedenken.

Der nationale Wetterdienst Météo-France hatte vor dem Herbststurm Alex gewarnt. In der Bretagne richtete er mit Windstärken bis zu 186 Stundenkilometern starke Schäden an; 8000 Einwohner blieben dort auch am Sonntag ohne Strom. Niemand hatte aber damit gerechnet, dass kleine Bergflüsse wie die Vésubie oder die Roya eine solche Wucht erreichen könnten.

Als Ursache für die aussergewöhnlichen Regenfälle gilt die zuvor erfolgte Lufterwärmung über der französischen und italienischen Riviera sowie dem Mittelmeer auf rund 24 Grad. Die feuchte Luft floss in das viel kühlere Hinterland ab und verwandelte sich beim Abkühlen in Regenmassen von bisher unbekanntem Volumen. Die massiven Verwüstungen scheinen deshalb zumindest mit der generellen Klimaerwärmung in Relation zu stehen.