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Die Europäische Union versucht, ihre schwierige Beziehung zur Türkei zu kitten. Das beginnt mit einem Affront.
Ein Saal im Präsidentenpalast in Ankara. An der Wand hängt ein grosses Porträt von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Die türkische und die europäische Flagge sind aufgestellt. Präsident Recep Tayyip Erdogan führt seine beiden hohen Gäste aus Brüssel herein und bittet Platz zu nehmen. Nur: Es fehlt ein Stuhl.
«Ähm?!» entfährt es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Was soll das? Ihr Kollege, EU-Ratspräsident Charles Michel, kümmert sich nicht. Er setzt sich hin und streckt die Beine aus. Von der Leyen hingegen wird auf ein Sofa platziert, in mehreren Metern Abstand zu den beiden Männern.
Es ist eine schräge Szene, die sich zum Auftakt des Besuchs der beiden EU-Spitzen bei Erdogan vom Dienstag abgespielt hat. Festgehalten auf Video, sichtbar für die ganze Welt:
Hat der türkische Präsident hier von der Leyen, immerhin Chefin der höchsten EU-Behörde, gedemütigt? Will er sie etwa nicht an seiner Seite haben, weil sie eine Frau ist? So zumindest vermuten es am Tag danach zahlreiche Beobachter.
Vom «Sofa-Gate» ist in den sozialen Medien schnell die Rede. «Eine Schande» kommentiert Iratxe Garcia Perez, die Fraktions-Chefin der Sozialdemokraten im EU-Parlament.
Von Machismus spricht der Grüne-Bundestagsabgeordnete und Erdogan-Kritiker Cem Özdemir. Aber auch EU-Ratspräsident Charles Michel muss viel Prügel einstecken. Er habe sich zur «Witzfigur» degradieren lassen, so der ehemalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern.
Das Thema ist deshalb so explosiv, weil Erdogans Umgang mit Frauen und deren Rechte seit Wochen für Negativschlagzeilen sorgt. Erst im März verliess die Türkei unter internationalem Protest die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt. Laut Erdogan würde die Konvention das traditionelle Familienbild der Türkei gefährden. Dass ihn die EU-Spitzen gerade jetzt mit einem offiziellen Besuch beehren, wurde im Vorfeld der Reise deshalb stark kritisiert.
Schliesslich ging es beim Treffen aber darum, die geostrategisch entscheidende Beziehung der EU zur Türkei irgendwie wieder auf eine tragfähige Basis zu setzen. Dies, nachdem im vergangenen Jahr viel diplomatisches Geschirr zerschlagen wurde: Im Februar schickte Erdogan Tausende Migranten los zum Sturm auf die EU-Grenze in Griechenland. Schon seit längerem bedrohte er mit Gasbohrungen im Mittelmeer die nationale Souveränität Zyperns und Griechenlands. Zwischenzeitlich kam es sogar fast zu einem militärischen Konflikt zwischen den beiden Nato-Mächten Griechenland und Türkei.
Nachdem die EU mit scharfen Sanktionen gedroht hatte, lässt es Erdogan seit einigen Monaten wieder sein mit den Provokationen und bemüht sich vermehrt um eine konstruktive Beziehung. Hintergrund ist nicht zuletzt die schwere Wirtschaftskrise in der Türkei.
An von der Leyen und Michel war es nun, ein konkretes Angebot für eine «positive Agenda» auf den Tisch zu legen. So haben es die EU-Staats- und Regierungschef kürzlich beschlossen. Die EU will der Türkei jetzt zusätzliche Milliarden für die Versorgung der fast vier Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge im Land anbieten.
Aber auch eine Erweiterung der Zollunion und Erleichterungen beim Personenverkehr, sprich Visa-Liberalisierungen, sind im Gespräch. Grundvoraussetzung dafür bleibt allerdings, dass sich Erdogan erkenntlich zeigt und sich bei der Migrationsfrage und beim Erdgas-Streit still verhält.