Literatur
Was macht ein Physiker auf Helgoland? Christian Haller schreibt kurz vor seinem 80. Geburtstag ein kleines Meisterwerk

Die Novelle «Sich lichtende Nebel» ist eine virtuose Tandem-Geschichte, in der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod verschwimmen.

Markus Bundi
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In seiner neusten Novelle nimmt Christian Haller seine Leserschaft mit an die Nordsee.

In seiner neusten Novelle nimmt Christian Haller seine Leserschaft mit an die Nordsee.

Sandra Ardizzone

Warum lassen sich der Radrennfahrer auf seiner halsbrecherischen Abfahrt und die alpine Landschaft im Hintergrund nicht zugleich, sprich auf einem Bild, scharf ablichten? – So oder so ähnlich lautet die Einstiegsfrage des Physiklehrers, wenn er seine Klasse auf Heisenbergs «Unschärfe-Relation» einstimmen will. So unsexy Physikunterricht auch immer sein mag, ohne die Formeln, auf die zum Beispiel Albert Einstein oder Werner Heisenberg gekommen sind, gäbe es die Technologie von heute nicht.

Die mathematischen Gleichungen, die Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die uns den Zugang zum Mikrokosmos (und darüber hinaus) ermöglichen, das sind mit Sinnlichkeit aufgeladene Quantensprünge. Das weiss einer, der sich in jungen Jahren den Naturwissenschaften verschrieben hatte, im Grunde seines Herzens aber schon immer Schriftsteller war: Christian Haller (*1943), der Zoologie in Basel studierte, dessen literarisches Œuvre heute, kurz vor seinem 80. Geburtstag, auf zehn Romane, mehrere Gedichtbände, Dramen und Essays angewachsen ist, entführt seine Leserinnen und Leser diesmal – auf Helgoland.

Das ist diese kleine Insel, die ziemlich verlassen in der Nordsee steht, zu erreichen mit der Fähre von Cuxhaven aus. Gut erschlossen, mittlerweile, für den Tourismus offen, gut gelegen schon vor hundert Jahren für Allergiker, da sich der Pollenflug aufgrund der kargen Vegetation arg in Grenzen hält. Und das ist auch einer der Gründe, warum sich der Protagonist in Hallers Novelle «Sich lichtende Nebel» im Jahr 1925 zu einer Überfahrt entschliesst.

Wen Träume Wirklichkeit werden

Der junge Mann, Gast am Kopenhagener Physikinstitut, leidet indes nicht nur an Heuschnupfen, sondern auch an Berechnungen zu den Umlaufbahnen von Elektronen. Es ist höchste Zeit, den Kopf wieder freizukriegen, zumal ihn eine nächtliche Beobachtung seinerseits aus der Bahn geworfen hat. Selbstvergessen sass er auf einer Bank hinter dem Institut und sah, wie ein Mann im Lichtkreis einer Strassenlaterne erschien, verschwand und wenig später unter der nächsten Laterne wieder auftauchte. Wo war der Gehende in der Zwischenzeit? Über den Aufenthaltsort des andern im Dunkeln gibt es keine Gewissheit.

Dass es sich beim «Beobachter», so wird der junge Physiker genannt, um die historische Figur Werner Heisenbergs handelt, wird von Haller bereits im Motto zur Novelle angezeigt: «Beim Aufstieg hatte sich der Nebel immer dichter um unseren enger werdenden Pfad geschlossen …». Der angefangene Satz stammt von Heisenberg und rekurriert auf eine Wanderung mit seinem dänischen Mentor – hinter dem sich Nobelpreisträger Niels Bohr verbirgt.

Und der Beobachtete? – Ein Statist, der in den Augen Heisenbergs zufällig zum corpus delicti wird. Könnte man meinen. Im Gegensatz zum Physiker lässt der Schriftsteller den älteren Mann nicht aus dem Blick, kürt ihn stattdessen zur zweiten Hauptfigur. Der von Laternen Beleuchtete, das ist Helstedt, emeritierter Geschichtsprofessor, der nachts auf seinem Heimweg war. Seiner akademischen Pflichten entledigt und Witwer, ernährt sich Helstedt mehr schlecht als recht, hält sich an einen missliebigen alten Freund, beschränkt sich ansonsten aufs Schauen und Schlafen: «Nein, er wusste nicht, wo er war und hatte auch kein Ziel. Ausser vielleicht zu schauen. Was immer er ansah, bekam einen kristallenen Glanz und war von einer leuchtenden Schönheit.» Und was der hellsichtige Historiker da träumte, wird alsbald Wirklichkeit sein.

Novelle zum Geburtstag

Vor bald 80 Jahren wurde Christian Haller am 28. 2. 1943 in Brugg geboren. Er studierte Zoologie in Basel, leitete die «Sozialen Studien» am Gottlieb Duttweiler Institut und arbeitete als Dramaturg am Theater Claque in Baden. Seit den 1980er Jahren schreibt er Erzählungen, Romane und Theaterstücke, die Novelle «Sich lichtende Nebel» ist sein neustes Werk. Das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg widmet ihm zum 80. Geburtstag ein Abendprogramm (25. Februar, ab 18 Uhr). red.

Während Helstedt darüber nachdenkt, «dass Träume in einer seltsamen Asymmetrie zum Alltagsleben» stehen, erholt sich Heisenberg auf Helgoland und beobachtet, wie der Nebel «in langen Bänken vom Meer gegen die Insel» treibt. Mit anderen Worten: Hallers Novelle ist als virtuose Tandem-Geschichte angelegt; im Leben beider lichtet sich allmählich der Nebel.

Die jeweiligen Erkenntnisse gehen dabei weit übers Palindrom hinaus. Heisenberg macht die Bekanntschaft mit seiner Gastgeberin auf Helgoland, Helstedt verguckt sich in Linn, die ihm als Adressatin für seine Aufzeichnungen dient: «… was ich sah, waren blau strahlende Energiezustände – wobei das Wort ‹Zustände› falsch ist. Diese ‹Energiezustände› waren nicht statisch, wie die Wortbedeutung nahelegt, sondern in beständiger Bewegung, allerdings je nach Gegenstand oder Material langsamer oder schneller, kaum wahrnehmbar in den Wänden, gut sichtbar in den Gardinen, schnell in den Ästen und Blättern.»

Luchterhand

Die Sinne von Helstedt und der Verstand Heisenbergs führen zu Überblendungen, die sich einer exakt zu berechnenden Welt entgegensetzen. Die Unschärfe, die der Physiker letztlich in eine mathematische Matrix giesst, lässt den Historiker die Grenze zwischen Leben und Tod überwinden. Wahrlich unerhörte Ereignisse, wie sie schon nach Goethes Dafürhalten eine Novelle auszeichneten! Und was die Wechselwirkung zwischen Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit betrifft, da ist Christian Haller mit «Sich lichtende Nebel» ein kleines Meisterwerk geglückt.

Christian Haller: Sich lichtende Nebel. Novelle. Luchterhand, 124 Seiten.