Als Kritiker übersteigerter Identitätspolitik exponiert sich der Berner Dichter Jürg Halter regelmässig. Auch sein Gedicht «Das niemals niemanden verletzende Abc» ist eine Polemik gegen ideologisches Stammesdenken.
Der Mensch hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, so viel ist unbestritten. Doch zunehmend wird auch auf ein Recht auf symbolische Unversehrtheit gepocht. Etwa von Personen, die sich von der deutschen Grammatik nicht repräsentiert fühlen und nicht ins Korsett der etablierten Geschlechter eingeschnürt werden wollen. Neue Zeichen müssen also her, zum Beispiel der Asterisk in seiner neuen Aufgabe als Genderstern.
Der sprachliche Umgang mit dem Geschlecht ist nur eins der Schlachtfelder, auf denen die Fronten klar scheinen: Von links laufen die Verfechter der Inklusion und Mikroaggressionsvermeidung auf, während von rechts gegen Sprachvorschriften und Zensur angekämpft wird. Doch dass die Schlachtordnung deutlich komplizierter ist, zeigten in jüngster Zeit auch Wortmeldungen von Personen, die nicht im Verdacht stehen, aus der konservativen Ecke zu sprechen. Sie warnen vor ideologischem Stammesdenken und sehen die Redefreiheit bedroht.
Auch der Berner Autor und Künstler Jürg Halter müpft gegen den ideologischen Stamm auf, in dem ihm als linkem Kulturschaffendem sein Plätzchen zugewiesen scheint. Er kritisiert eine «linke, schwarz-weiss-denkende, übersteigerte Identitätspolitik», die der Zersplitterung der Gesellschaft Vorschub leiste und Spannungen schüre. Dafür wird Halter aus der extremlinken Ecke angefeindet und bedroht. Für die Finissage seiner Kunstausstellung brauchte er Personenschutz.
Dass er die Polemik nicht scheut, hatte er auch in seinem Gedichtband «Gemeinsame Sprache» gezeigt. Eine gemeinsame Sprache wäre das Ziel, aber wenn die Ansprüche an sie überzogen sind, muss es utopisch bleiben. «Das niemals niemanden verletzende Abc» ist einer der Texte überschrieben, der nur aus 24 Asterisken besteht. Man versteht: Wenn in der heutigen Schneeflockengesellschaft niemand verletzt werden soll, darf man nichts mehr sagen.
Doch Halters Text ist keineswegs nur Statement, sondern vollgültiges Gedicht. Zunächst ist der Titel zweideutig. «Niemals niemand» liest man, mit Blick auf den Volksmund, zunächst als verstärkende Doppelung. Die Logik sagt allerdings, dass eine doppelte Negation einer Bejahung entspricht. Demnach würde es also immer Verletzte geben, auch beim Asterisken-Abc.
Dass ein Haufen Sternchen durchaus ein relevanter Beitrag zur Literatur darstellen kann, wissen wir seit Tristram Shandy, der sich ständig in schlüpfrige Sackgassen verirrt, in denen die Dinge nicht beim Namen genannt werden dürfen. Sein gerissenes Spiel mit den Sternen macht die Zensurierung des Unsagbaren zum Ereignis und zieht so die Neugier des Lesers auf sich. Halters Sterne indessen haben die Form eines Gedichts: «* * * * * * /* * * * * *» Sechs Stück pro Zeile, vier regelmässige Zeilen, ein Hexameter, ein Vierzeiler. Da ist Struktur, Rhythmus, Wiederholung. Ein formbewusster Text.
Auch im eingeklammerten Untertitel steckt eine literarische Anspielung. «Der Rest ist Schweigen.» Das sind bekanntlich Hamlets letzte Worte, bevor er stirbt. Natürlich, das freie Wort ist ja tot. Das Schweigen erinnert aber auch an Eugen Gomringers Gedicht «schweigen». Überhaupt lässt Halters Asterisken-Rechteck an die konkrete Poesie denken, in der die Wörter als typografisches Material behandelt werden, als Bilder also, die nichts bedeuten wollen. Doch Wörter anzuschauen, ohne nach der Bedeutung zu fragen, das ist gar nicht so einfach. Allzu rasch wird verstanden und vor allem: missverstanden. Vor dieser Gefahr, immerhin, sollte Halter mit seiner Sternenkonstellation gefeit sein.
Jürg Halter: Gemeinsame Sprache. Gedichte. Dörlemann, Zürich 2021.
Hört doch auf, euch in der heutigen Krisensituation mit solch politisch nebensächlichen Themen zu beschäftigen. Grundsätzlich ist es richtig, die Frauen in Texten auch explizit anzusprechen. Das kann in einer milden Form geschehen mit Doppelpunkt oder Stern. Unmögliche Konstrukte sind zu vermeiden. Vorschriften soll es keine geben.
[Achtung: Sarkasmus] Vor dem Gendersternchen sind alle gleich! [Ende Sarkasmus] [Achtung: Bitterer Ernst] Ja: Es verstümmelt die Sprache, die Männer, die Frauen, die Diversen alle gleichermaßen – und ist so unsexy wie sexfeindlich. Ich bin aber zuversichtlich, dass es über kurz oder lang wieder verschwinden wird wie einst das Binnen-I unseligen Angedenkens. [Ende bitterer Ernst] Seit ich Vorlesungsskripts schreibe und Fachbücher verfasse, verwende ich statt dessen konsequent das, was ich "geschlechterumfassende" Formulierung nenne: Bei mir werden etwa "Studentinnen und Studenten" gleichermaßen angesprochen. Seit Jahrzehnten habe ich die Studentinnen niemals einfach totgeschwiegen oder beide Geschlechter zusammen zu "Student*innen" oder "Student:innen" verstümmelt. Auch zu sogenannt geschlechtsneutralen Formulierungen wie "Studierende" greife ich nur ab und zu als Notlösung, wenn der Text sonst mal zu schwerfällig würde. Sprachliche Kreativität führt IMMER, Dogmatismus NIE zu guten Lösungen.