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Kultur
Im aktuellen SRF-Literaturclub wird das aktuelle Buch der 81-jährigen Helga Schubert euphorisch gelobt. Wir haben die Autorin mit langer DDR-Vergangenheit und letztjährige Gewinnerin des Bachmannpreises in ihrem Zuhause in Mecklenburg besucht.
«In dem Haus da drüben hat sich der Bauer aufgehängt, hier ist eine Frau nach dem plötzlichen Herztod ihres Mannes zurückgeblieben», sagt Helga Schubert beim Spaziergang durch ihr winziges Dorf. «Und dort hat sich der Mann erschossen, nachdem er krank wurde». Eine Kreuzung gibt es, vielleicht zwanzig Häuser, ein paar bellende Hunde und sehr viel weites, sanft geschwungenes Land, das sich hinter den Häusern bis zum Horizont dehnt, Felder, auf denen im Wechsel Raps, Mais, Steckrüben wachsen. Leise ist der grosse historische Wechsel der Systeme vor 30 Jahren, von DDR zu Bundesrepublik Deutschland, über Neu-Meteln und seine 56 Menschen hinweggegangen. Es sei denn, man kennt die Verhältnisse von innen. «Hier wohnt eine alte Frau, die schon vor uns da war …», sagt die Schriftstellerin mit Blick auf eines der schlichten verputzten Häuser:
«Hier kenne ich von jedem Haus das Schicksal.»
Schicksal. Zufälle. Von solchem hat die 81-jährige Schriftstellerin, die aufrecht und schwungvoll durch ihr Dorf führt, so viel zu erzählen, dass man ihr wochenlang zuhören müsste. Sie selbst aber hat den klugen Weg in die literarische Verknappung gewählt, als sie für ihren Text «Vom Aufstehen» tief in den eigenen Lebensstoff griff und mit fein gesetzten Stichen ein existenzielles persönliches Drama einnähte in die Geschichte eines heutigen Alltagsmorgens: Aufwachen, Hinüberhorchen zum kranken Ehemann im Nebenzimmer, die Briefe der verstorbenen Mutter auf dem Tisch sehen, - an diese Mutter denken, deren einziges Kind sie war, und die es noch an ihrem Sterbebett als «Heldentat» beschrieb, sie weder abgetrieben noch erschossen zu haben, wie es unter dem Druck von Krieg und Flucht die Verwandten von ihr verlangten. Diese Mutter, der ihr eigenes Kind «im Innersten fremd war», was sie mit Schlägen und lebenslangen Gesten der Lieblosigkeit bestätigte.
Und doch. Es gab die wenigen anderen Momente, die anderen Taten. Die Weise, in der in den elf Seiten dieser Geschichte Leben sortiert wird, führt am Schluss auf plausible Weise sogar zum Danken - weil es der Erzählerin gelingt, etwas eigentlich Unerträgliches einzuordnen in die eigene Lebensgeschichte; der nicht vorhandenen Wärme, ja, Grausamkeit einer Mutter, die ja auch das Potenzial gehabt hätten, ihr Leben zu sprengen, einen Platz zuzuweisen.
Auf diese grossartige, 2020 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnete Geschichte laufen im nun vorliegenden Buch 28 Erzählungen eines Lebens, thematisch gebündelt, zu. Der Vater, im Krieg geblieben, als sie selbst zwei war. Gottesglaube, der sie von den engagierten Kirchen der DDR bis zu heutigen Lesungen in Kirchen führt: «der Ausweg aus der Kälte zuhause». Die Mutter. «Fremd, ja», sagt Helga Schubert, auf einem kleinen Sitzplatz vor dem Haus, «aber ich habe inzwischen vor allem Respekt vor ihr.»
Schubert, 1940 in Berlin geboren und eine «in der Wolle gefärbte», sprich, waschechte Berlinerin, durch Zufall Berlin Ost, begann 23-jährig im erlernten Beruf der Psychologin zu arbeiten: «Da war ich in Sicherheit». Dazu habe sie wohl ein Talent: «Hinhören, Verbalisieren, Annehmen. Eine Atmosphäre der Wärme schaffen. Ermutigen».
Geschrieben habe sie immer. Als Christa Wolf 1975 die 35-jährige Helga Schubert und ihren Mann ins mecklenburgische Dorf holte, - «sie sagte: das Haus gegenüber ist frei, wollt Ihr nicht einziehen?» – hatte Schubert gerade den Erzählband «Lauter Leben» publiziert. Literatur gedieh in Meteln. Christa Wolfs «Sommerstück» bezieht sich auf das Dorf; nun kommt es erneut in Schuberts Geschichten zu Wort, mit seinen Menschen, Stimmungen, Jahreszeiten: «In diese Einsamkeit trauen sich sogar Trauerseeschwalben, Kraniche, Reiher, am Abend kurven Fledermäuse, vor Kurzem zischte mich vor Angst eine Ringelnatter an beim Bettenmachen, sie hatte sich über die warmen Platten des Wintergartens ins Haus und dann in unsere Betten verirrt.»
1983 brannten die Häuser der Wolfs und der Schubert-Helms ab. Die Wolfs gingen, sie selbst bauten neu. Dann nahm sich Helga Schubert die «ganz grosse Freiheit», die Psychologie an den Nagel zu hängen und nur noch zu schreiben. «Aus dem Verhältnis zu einer Figur kann ich rausgehen, aus dem mit wirklichen Menschen, für die ich eine Verantwortung übernommen habe, nicht.»
«Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten» ist das nachdenkliche Bilanz-Buch von einer, die sich beschreibt als «ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung», und die sich hier konsequent verbindet mit der Bruchstückhaftigkeit und auch der Brüchigkeit des Lebens. Da sind die widerspruchsvolle Kindheit und das widerständige Leben in der DDR, das «zerstörerische Fernweh», die politischen Kämpfe der Wendezeit, der Wandel der Zeiten im Dorf, die kleinen Glücke und stillen Unglücke, die lange Liebesgeschichte zu ihrem Mann. Sie vollzieht, was die innerste Aufgabe und Möglichkeit von Schreibenden ist: «Etwas erzählen, was nur ich weiss.»
Den Schritt in die – schlussendlich - innere Freiheit von der Mutter hatte übrigens eine ganz und gar nüchterne junge Pastorin mit Kurzhaarschnitt befördert, als sie auf die gequälte Frage der erwachsenen Tochter nach dem vierten Gebot sagte: «Irrtum… Gott verlangt von uns nicht, dass wir unsere Eltern lieben. Wir brauchen sie nur zu ehren. Sie haben sich ganz umsonst bekümmert…»
«Immer will ich alles zusammenhalten und nichts auseinanderfallen lassen», schreibt Schubert an einer Stelle. In diesem Buch, vor allem in der preisgekrönten Geschichte, ist ihr das meisterlich gelungen.