Ein Lehrer, der ein Verhältnis mit einer Schülerin hat, in der Hauptrolle die minderjährige Nastassja Kinski, teilweise nackt. Wie hält sich die vom jüngst gestorbenen Wolfgang Petersen inszenierte Folge in Zeiten von MeToo?
Die «Tatort»-Folge «Reifezeugnis» von 1977 ist bis heute eine der am meisten wiederholten Folgen der Krimireihe. Auch derzeit läuft sie wieder über die Bildschirme, diesmal zu einem traurigen Anlass: Ihr Regisseur Wolfgang Petersen war kurz zuvor, am 12. August, in Los Angeles einer Krebserkrankung erlegen.
Doch was erzählt uns diese Geschichte über die Folgen, die eine Affäre zwischen einer minderjährigen Schülerin und ihrem Klassenlehrer hat, heute noch? Taugt sie in Zeiten gestiegener Sensibilität, seit MeToo, zum Skandalfilm? Wird dieser «Tatort» radikal überschätzt oder ist er gar völlig aus der Zeit gefallen?
Ehe er nach seinem Welterfolg «Das Boot» nach Hollywood auszog und dort starbesetzte Blockbuster wie «In the Line of Fire» oder «Troy» realisierte, war Petersen für Theater und Fernsehen tätig. Der Bühneneinfluss schlägt sich sichtlich auf das «Reifezeugnis» nieder, das fast kammerspielartig wie die massenfreundliche Variante eines Ibsen-Dramas wirkt.
Im Wesentlichen kreist die Episode, angesiedelt in einer Kleinstadt im norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein, um vier Personen. Zudem treten noch zwei Ermittler auf, die sich jedoch angenehm unauffällig im Hintergrund halten.
Kommissar Finke (ein lässiger Klaus Schwarzkopf) und sein Assistent, der Stichwortgeber für den bundesrepublikanischen Humor, haben relativ wenig Leinwandzeit. Sie sind die ausführenden Rädchen im Hintergrund, schliesslich geht es «Reifezeugnis» nicht um die Aufklärung eines Mordfalls. Dennoch ist die Geschichte vertrackter als man meinen könnte.
Es beginnt mit schwülstigen Liebesschwüren, der Teenager Sina (gespielt von der damals 16-jährigen Nastassja Kinski) an einen heimlichen Liebhaber richtet, ihren 15 Jahre älteren und verheirateten Klassenlehrer Helmut Fichte (Christian Quadflieg).
Als der impulsive Mitschüler Michael (Markus Boysen), der ebenfalls ein Auge auf Sina geworfen hat, den beiden nachstellt und so von der Affäre erfährt, drängt er das Mädchen, sie solle auch mit ihm schlafen. Sie geht auf die Erpressung ein, erschlägt Michael im Affekt jedoch mit einem Stein, als dieser im Wald über sie herfällt.
Ein wesentlicher Teil des Mythos, der den Tatort «Reifezeugnis» umgibt, stellt zweifellos die Besetzung der Hauptrolle mit der Tochter von Klaus Kinski dar, damals 16 Jahre jung. Ihr Vater stand, wo er auftauchte, im Rampenlicht, wegen seiner genialischen Schauspielkunst wie auch seiner öffentlichen Auftritte.
Bei beiden überschritt er gerne wutentbrannt die Grenzen bürgerlichen Anstands. Nicht zuletzt daher haftete alleine der Besetzung mit Nastassja, die zuvor erste Schauspielerfahrung bei Wim Wenders gesammelt hatte, ein Hauch von Skandal an.
Dabei wird Kinskis Sina keineswegs als verführerisches, frühreifes Sexsymbol inszeniert, sondern sie ist – nicht trotz, sondern womöglich gerade wegen ihrer Nacktszenen – in erster Linie eine schutzbedürftige Jugendliche. Schwärmerisch schreibt sie Verse wie «So tief, unsagbar tief erfüllst du mich» und fragt ihren Liebhaber, ob ihm ihr Teddybär gefällt.
Ihre Zukunftspläne hat sie ganz nach seinem Vorbild ausgerichtet, sie will selbst Lehrerin werden und mit 25 ein Kind von ihm haben, nur «Knöpfe annähen und Hemden bügeln» wird sie nicht, so weit komme es noch.
Das Gegenstück zu Sinas Naivität ist die berechnende Grausamkeit ihrer Schulkollegin. Diese hat ebenfalls von der Affäre Wind bekommen und terrorisiert nicht nur Sina mit ihrem Wissen, das sich bald in der Schule verbreitet, sondern erpresst damit auch das Lehrerehepaar Fichte für bessere Noten. Überhaupt operiert dieser «Tatort» mit mehreren Spiegelpaaren, stellt den Figuren jeweils andere gegenüber, die ganz anders handeln und verweigert sich so einer Eindeutigkeit.
Damit wären wir bei der interessantesten Figur des Fernsehstücks: Dr. Gisela Fichte (Judy Winter), der Frau des Fremdgängers. Während ihr Mann Helmut eigentlich ein langweiliger Schönling ist, der sogar vor dem Akt wie vor einer Schulklasse Karl Krolow zitiert («Glücklichsein beginnt immer ein wenig über der Erde»), versucht sie pragmatisch, so wenig verbrannte Erde wie möglich zu hinterlassen.
Als sie erfährt, dass ihr Mann ein Verhältnis zu seiner Schülerin hat, reagiert Gisela darauf scheinbar gelassen: «Mach bald Schluss mit der Sache», beantragt jedoch im Hintergrund die Versetzung der beiden.
Ja, «Reifezeugnis» ist ein Produkt der 70er-Jahre, wenn der Arzt nach seinem üblichen Cognac beim Hausbesuch gefragt wird und man mit Nacktheit, auch von minderjährigen Darstellerinnen, noch lockerer umging. Es ist die Zeit als die israelische Zote «Eis am Stiel» ein internationaler Erfolg wurde und der elfte Teil die Softsexreihe «Schulmädchen-Report» allmählich beerdigte.
Vor allem Letztere hat ein ganzes Subgenre begründet, das die Schule als Hort früherotischer Verlockungen idealisiert. 50 Jahre und unzählige Missbrauchsfälle an dieser Institution später, steht man heute freilich ganz woanders da.
Im «Tatort» von 1977 fällt vor allem auf, wie gelassen praktisch alle auf die Nachricht reagieren, dass da ein Abhängigkeitsverhältnis schamlos ausgenutzt wird. Eine gewisse Verantwortungslosigkeit wohnt allen Erwachsenen inne; sofern sie überhaupt anwesend sind.
Es häufen sich auffällig die abwesenden oder toten Väter, die alkoholkranken oder desinteressierten Mütter. Durch die einfühlsame Figurenzeichnung und die kühle, distanzierte Kameraführung vermeidet «Reifezeugnis» jedoch einen plumpen Moralismus.
Stattdessen wird ausführlich die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln, zwischen privater und öffentlicher Rolle, zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung verhandelt. Geschickt lässt Petersen Leerstellen offen und Mehrdeutigkeit zu.
Lange sieht keiner das Offensichtliche, traut niemand Sina zu, dass sie die Täterin gewesen sein könnte, schliesslich ist sie das unschuldige Mädchen mit den Rehaugen. Noch so ein Trugschluss, zu dem passt, was Gisela Fichte an einer Stelle sagt: «Wir sollten in Zukunft mit unserem Urteil über andere vorsichtiger sein.»