Computerspiele können wertvolle Kulturgüter sein. Das Schweizer Game «Far: Changing Tides» tritt trotz kleinem Budget einmal mehr den Beweis an.
Die verblassten Werbegrafiken an den ausgewaschen pastellfarbenen Gebäuden erinnern an die Zwanzigerjahre. Doch die guten Zeiten sind längst vorbei. Alles ist unter Wasser. Dunkel schimmert es im Sonnenlicht. Da und dort ragen ein paar Häuserruinen und Dächer heraus. Keine Menschenseele ist zu sehen. Nur ein kleiner Junge, der aus dem Nichts in die Tiefen des omnipräsenten Wassers geplumpst ist.
Toe, so heisst der Bub, ist ein begnadeter Schwimmer und Taucher. Doch immer wieder stellen sich ihm Hindernisse in den Weg. Der kleine Kerl bewegt sich vom linken zum rechten Bildschirmrand im bekannten Side-Scrawling-Stil. Auf dieser spielerischen Ebene gilt es die Rätsel zu lösen, die Toes Fortschritt stören. Es wird nicht einfacher für ihn, als er ein so eigenartiges wie riesiges Schiff besteigt und dessen Segel setzt. Nun geht die Reise zwar zügiger vorwärts, wenn die Segel korrekt gestellt werden. Dafür gilt es vorausschauend zu sein, denn der Mast passt nicht unter der – rumms! – Brücke durch.
Wie schon bei «Far: Lone Sails» (2018) bringt es das Schweizer Game-Studio Okomotive fertig, dass man sich augenblicklich um den Protagonisten sorgt. Dieses kleine wortlose Wesen, das seinen Weg durch diese postapokalyptische Tristesse sucht, will beschützt sein. Die melancholische Musik von Joel Schoch verstärkt die emotionalen Bande.
Mit «Far: Lone Sails» überraschten vor vier Jahren Don Schmocker und Goran Saric, beides Abgänger der Zürcher Hochschule der Künste, die Gamer-Welt. Es war, als bewegte man sich durch ein gigantisches Gemälde eines Wüstenplaneten. Der vielfach als «poetisch» gepriesene Titel verkaufte sich über 400 000-mal.
Wie beim mehrfach preisgekrönten Vorgänger fallen die Kritiken von «Far: Changing Tides» überdurchschnittlich aus. Auf der Gaming-Plattform Steam sind 94 Prozent der Bewertungen positiv. Selbst Phil Spencer, Chef von Microsofts Spielkonsole Xbox, hat auf Twitter geschrieben:
«Ich habe grossen Spass mit ‹Far: Changing Tides›.»
Hinter dem jüngsten Œuvre steht ein eingespieltes Team: «Was mit ‹Far: Lone Sails› als ein Universitätsprojekt begann, hat sich zu einem Studio mit zehn Mitarbeitern, zwei Spielen und über sechs Jahren voller wunderbarer Erinnerungen entwickelt», sagt Lead-Designer Don Schmocker. Damit zählt Okomotive zu den grösseren Arbeitgebern der Schweizer Game-Szene. Die Mehrheit der lokalen Entwicklerstudios wird von ein bis zwei Personen betrieben.
Die Aussichten, dass «Far: Changing Tides» die grossen Fussstapfen seines Vorgängers füllen wird, stehen gut. An manchen Tagen lag der Verkaufstrend des Schweizer Titels auf der Gaming-Plattform Steam höher als die internationale Grossproduktion «Elden Ring», die geschätzt ein 200-mal grösseres Produktionsbudget gehabt haben dürfte. Das klassische Schweizer Prädikat «klein, aber fein» hat das neue Game von Okomotive ohnehin verdient, denn so viele Titel gibt es nicht, von denen man Screenshot um Screenshot einrahmen und an die Wand hängen würde.
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