Eifersucht, Überforderung, komplizierter Alltag: Weshalb das coole Image von Patchwork-Familien nicht der Realität entspricht

Promis leben die perfekte Patchwork-Familie vor – und scheitern oft. Denn entgegen seinem coolen Image fordert das zusammengewürfelte Familiengeflecht den Beteiligten einiges ab.

Angela Bernetta
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Patchwork ist ein schwieriges Familien-Puzzle (Bild: Getty)

Patchwork ist ein schwieriges Familien-Puzzle (Bild: Getty)

«Wir haben es geschafft», sagt Ria Eugster. Vor über zwanzig Jahren wagte die Lehrerin mit ihrem zweiten Mann den Neuanfang. Mit viel Liebe, Pragmatismus und Engagement bauten sie in einem gemeinsamen Heim eine neue Lebensgemeinschaft auf. «Mein Mann brachte drei, ich zwei Kinder mit in die Ehe.» Es sei nicht einfach gewesen. «Wer in einer Patchworkfamilie überleben will, muss Konflikte konstruktiv austragen und darf die Perspektive der anderen nicht aus den Augen verlieren», sagt die 60-Jährige.

«Doch mein Mann und ich waren uns sicher, dass wir diese Familie wollen und taten alles, damit es gelingt.»

Heute sind die fünf Mädchen erwachsen. Einige haben bereits eigene Kinder. «Im vergangenen Jahr ist mein zweiter Mann gestorben.» Ria Eugster arbeitet als Familiencoach am Zürichsee.

Laut Bundesamt für Statistik gehören rund sechs Prozent der Schweizer Familienhaushalte mit Kindern unter 25 Jahren zu diesen Lebensgemeinschaften – Patchworkfamilien genannt. Tendenz steigend. Wohl auch deshalb wird das Leben in diesem Familienverband in der Regenbogenpresse gelegentlich verklärt.

Lebensgemeinschaften von Prominenten wie den US-Schauspielern Angelina Jolie und Brad Pitt oder dem deutschen Model Heidi Klum und ihrem Ex-Mann Seal erwecken den Anschein eines modernen, weltoffenen und zwanglosen Beisammenseins. Angesichts dieser Lässigkeit erscheint der Alltag in der Kleinfamilie im Reiheneinfamilienhaus irgendwo in der Agglo wenig attraktiv. Diese Verklärung von Patchwork spiegelt in unseren unverbindlichen Zeiten auch die Sehnsucht nach der Grossfamilie.

Komplizierter Alltag

«Die Realität der Patchworkfamilien sieht meistens anders aus als die oftmals verklärten Darstellungen in einschlägigen Magazinen», sagt die Zürcher Psychologin und Familienberaterin Katja Wichser. Die Geschichten hinter Patchwork-Familien seien für gewöhnlich komplex.

«Sie gehen häufig einher mit dem Gefühl des Scheiterns und Vermissens, mit Eifersucht und Überforderung.»

Hinzu kommen alte und neue Verletzungen, die vor sich hin schwelen.

Dementsprechend kompliziert gestaltet sich der Alltag. «Wer gehört zu wem, wer darf wem was sagen, wer kommt zu kurz, und wer feiert Weihnachten und Geburtstag mit wem und wo sind gängige Fragen, die Patchwork-Familien umtreiben», sagt Ria Eugster. Diskussionen darüber können sich mitunter lange hinziehen. «Die biologischen Eltern müssen auch nach der Trennung die grundlegenden Entscheidungen zusammen fällen», rät Wichser.

«Denn in Patchwork-Familien sitzen auch die Ex-Partner symbolisch mit am Tisch.»

Bis jedes Mitglied seinen Platz im neuen Familienverband gefunden hat und nicht mehr jede Auseinandersetzung aus dem Ruder läuft, vergehen sieben Jahre, sagt die amerikanische Familienforscherin Patricia Papernow. Während dieser Zeit sei das Trennungsrisiko gross. Studien belegen, dass dieses bei Patchwork-Paaren 10 bis 20 Prozent höher als bei Paaren mit gemeinsamen Kindern liegt. Statistisch gesehen trennt sich die Hälfte der Patchwork-Familien wieder.

Unrealistische Erwartungen

«Patchwork-Familien scheitern oft an unrealistischen Erwartungen, da die Erwachsenen zu schnell zu viel wollen», sagt Katja Wichser. Einer deutschen Studie zufolge haben die Hälfte aller Männer und Frauen mit Kindern zwei Jahre nach einer Trennung oder Scheidung wieder eine neue Beziehung. Mehr als ein Drittel lebt dann bereits mit dem neuen Partner zusammen. Kinder in Patchwork-Familien fühlen sich oft bevormundet und ausgeliefert.

«Das Familienleben fordert ihnen einiges an Anpassung und Flexibilität ab», ergänzt die Psychologin. Das Auf und Ab der Gefühle, die zwischen Unsicherheit, Ärger, Frust, Trauer und Einsamkeit schwanken, kontrastiert nicht selten mit dem Glück der frisch verliebten Erwachsenen. «Schnell möchten diese nach einer Trennung wieder in ein glückliches Familienleben einsteigen», sagt Katja Wichser. «Zügig ziehen die Paare zusammen und teilen ihren Alltag.» Gelegentlich kämen die Kinder da emotional nicht mit und zeigen sich verunsichert.

«Sind die biologischen Eltern zusätzlich zerstritten, kann sich dieser Prozess verschärfen.»

«Für die Kinder ändert sich in einer Patchwork-Familie vor allem eins – die Familienhierarchie», sagt Ria Eugster. «Jeder muss seinen Platz in der neuen Lebensgemeinschaft finden.» Essenziell sei da die Unterstützung der biologischen Eltern. «Gleichzeitig braucht es innerhalb des neuen Familienverbands klare Strukturen, damit die Kinder wissen, wer ihnen welche Anweisungen geben darf.» Der Familiencoach weiss, dass in einer Patchwork-Familie viele verschiedene Interessen und Beziehungen zusammen kommen, die man unmöglich alle im Blick behalten und vermutlich auch nicht befriedigen kann. «Man muss auch keinem Idealbild entsprechen», sagt sie.

«So kann von Jugendlichen nicht erwartet werden, dass sie eine Beziehung zum neuen Partner aufbauen wollen.»

Sie investieren ihre Zeit lieber in den Austausch mit Gleichalterigen. Ohne diesen Druck wird ein anständiger Austausch leichter möglich. Und freiwillig kann vielleicht eine freundschaftliche Beziehung entstehen.

Fluch oder Segen

Dass sich die familiäre Situation auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Kinder auswirkt, bestätigt nicht nur die Wissenschaft. Ob Trennungskinder später vermehrt an Depressionen leiden, Bindungsängste oder ein Suchtverhalten entwickeln, lässt sich nicht eindeutig belegen. In funktionierenden Patchwork-Familien wachsen Menschen mit hohen sozialen Kompetenzen heran, halten verschiedene Studien fest. Diese Kids seien früh selbständig, hätten viel Verantwortungsgefühl für sich und andere und seien später beruflich erfolgreich, sagen amerikanische Forscher, die Trennungskindern über 25 Jahre begleitet haben.

«Wenn es gelingt, nach einer Trennung oder Scheidung gut funktionierende Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, können alle Beteiligten ihren Platz im neuen Familienmodell finden», ergänzt Katja Wichser. Ria Eugster betont den emotionalen Gewinn, den sie aus ihrer Patchwork-Vergangenheit gezogen hat. «Obwohl wir beide in erster Ehe gescheitert sind, fanden mein Mann und ich ein zweites Glück im neuen Familienverband.»