Österreich hat eine Impfpflicht beschlossen. Martin Werlen, Ex-Abt von Einsiedeln, ist heute Propst von St. Gerold – die Gemeinde ist beim Impfen das Schlusslicht in Vorarlberg. Wie steht «Mönch Martin» dem Thema gegenüber?
Was halten Sie von der Corona-Impfpflicht?
Martin Werlen*: In Österreich ist die Impfquote immer noch tief. Mit der Impfpflicht soll die Situation der Gesellschaft verbessert werden. Ich bin überzeugt, dass die Impfpflicht in Österreich vielen Menschen hilft, aus den Kreisen herauszukommen, in die sie sich verstrickt haben, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.
Warum hat Impfen etwas mit Gesicht wahren zu tun?
Manche Menschen wehren sich gegen das Impfen – aus unterschiedlichen Gründen. Wer sich bisher lautstark gegen das Impfen engagiert hat, kann nicht leicht aus dieser Haltung aussteigen, ohne als Verräterin oder Verräter dazustehen oder als Spätzünderin oder Spätzünder. So hat der Präsident der politischen Partei in Österreich, die u.a. gegen die Impfpflicht ist, eine Medienkonferenz einberufen. Um dann vor laufender Kamera medizinisch zu beweisen, dass er nicht geimpft ist. Damit wollte er diesbezüglichen Gerüchten widersprechen. Das zeigt das herrschende Klima. Die Impfpflicht nimmt den sozialen Druck weg, der nicht in der Verantwortung für die Gemeinschaft gründet, sondern in einer bisher persönlich vertretenen Haltung.
Verstehen Sie auch Kritik an der Impfpflicht?
Es ist nie ideal, wenn man zu etwas verpflichtet werden muss. Eine Verpflichtung muss eine Verantwortung beinhalten. Wer diese nicht sieht, wird sich vor der Pflicht drücken. Das Problem, das wir zu lösen haben, ist nicht das Impfen, sondern ein Virus, das unsere Freiheit ganz massiv einschränkt: Maske tragen, wenig Kontakte, Krankheit, Tod. Das Virus bringt Menschen im Gesundheitswesen über die Grenzen ihrer Möglichkeiten und untergräbt das wirtschaftliche Fundament unserer Gesellschaft. Impfen ist zurzeit die beste Massnahme, mit der wir dem Wüten des Virus Einhalt gebieten können. Hier sind wir alle herausgefordert, miteinander Verantwortung wahrzunehmen. Wer immer noch zuwarten will, sollte sich bewusst werden, vor welchen grösseren Schäden das Impfen die Gesellschaft in den vergangenen Monaten bewahrt hat.
St. Gerold hat die niedrigste Durchimpfungsrate in Vorarlberg. Welche Gründe erzählen Ihnen die Menschen?
Menschen, die in einem doch recht abgeschlossenen Tal wohnen, tendieren eher dazu, zuerst einmal Nein statt Ja zu sagen. Immer wieder höre ich Argumente, die von den wissenschaftlichen Erkenntnissen klar widersprochen sind. So sagte mir zum Beispiel eine junge Frau, dass sie sich nicht impfen lasse, weil das unfruchtbar mache. Dass sie täglich viele Zigaretten raucht und die gesundheitlichen Folgen bekannt sind, stört sie nicht.
Welches Argument von Impfgegnern lassen Sie gelten?
Bisher hat mich nur eine Person mit ihrer Begründung überzeugt. Sie hat mir von ihrer Angst erzählt, die durch ihre Lebensgeschichte verständlich ist. Jetzt sei sie noch nicht so weit. Die Strafe für die fehlende Impfung will sie gerne als ihren Solidaritätsbeitrag verstehen. Das hat mich beeindruckt.
Was halten Sie von der Impflotterie: Anreize fürs Impfen setzen?
Damit habe ich meine Mühe. Wichtiger als finanzielle Anreize wären Anreize zur Solidarität. Da sind wir als Kirche besonders gefordert.
Empfinden Sie die Gesellschaft als gespalten?
Die meisten Menschen tragen die Massnahmen – inklusive Impfen – selbstverständlich mit, weil sie solidarisch und mit Hilfe der Erkenntnisse der Wissenschaft den Weg durch diese schwierige Zeit gehen wollen. Das Wort Spaltung gibt einer kleinen Gruppe, die sich wohl lautstark bemerkbar macht, eine viel zu grosse Bedeutung. Um ein Bild zu bemühen: Die Gesellschaft ist nicht wie ein Tisch, der entzweit ist, sondern wie ein Tisch, dem eine Ecke abzubrechen droht. Darum soll und kann man sich kümmern. Die Gruppe der Extremisten, die sich nichts sagen lassen, ist nicht so gross, wie sie medial wahrgenommen wird.
Werden sich Impfgegner nun impfen lassen?
Mit der anstehenden Impfpflicht beginnen die meisten Leute, sich in anderen Quellen über die Pandemie zu orientieren statt nur in den «Insider»-Medien. So erhalten sie neue Einsichten und Antworten auf ihre berechtigten Fragen. Von hier ist der Schritt zur Impfung klein. Das durften wir auch in unserem Betrieb wahrnehmen. Der Dialog ist wichtig. Allerdings muss ich gestehen, dass ich auf Briefe von Massnahmengegnern meistens nicht mehr antworte. Dazu fehlt mir die Zeit und die Energie. Argumente zu widerlegen, die schon lange widerlegt sind, ist vergebliche Mühe.
Was hilft Ihnen persönlich?
Gott zu danken für die Gaben, die er Menschen anvertraut hat. Dazu gehören auch diejenigen, die heute in Forschung und Wissenschaft ihre Gaben einsetzen. Dazu gehören diejenigen, die sich im Gesundheitswesen engagieren. Dazu gehören viele Politikerinnen und Politiker, die ihre Verantwortung in dieser schwierigen Zeit wahrnehmen.
* Der Benediktiner Martin Werlen (59) war von 2001 bis 2013 Abt der Klöster Einsiedeln SZ und Fahr AG. Seit 2020 steht der Walliser der Einsiedler Propstei St. Gerold in Vorarlberg vor.