Rückblick auf einen symbolträchtigen Anlass: An der sogenannten Konferenz von Seelisberg vor 75 Jahren wurden zehn Thesen formuliert, welche den Weg für den künftigen christlich-jüdischen Dialog bereiteten.
In der ersten Augustwoche 1947 fand im Hotel Kulm in Seelisberg über dem Vierwaldstättersee ein grosses Treffen von 70 jüdischen und christlichen Gelehrten aus verschiedenen Ländern statt. Sie wollten in der neutralen Schweiz gegen die Judenverfolgung mobil machen und sich für den Frieden engagieren. 28 jüdische, 23 protestantische Frauen und Männer und 9 Katholiken arbeiteten in sechs Kommissionsgruppen.
Die dritte Kommission fand zu Aussagen an die Adresse der christlichen Kirchen, die als die «Zehn Seelisberger Thesen» bekannt geworden sind. Diese zeigen auf, dass es in der christlichen Liturgie und Katechese noch antijudaistische Stellen gab: die Karfreitagsfürbitten, den Blutruf oder die Verallgemeinerungen «die Juden» als Verantwortliche für den Tod Jesu.
Die erste These von Seelisberg lautet: Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht.
Damit betonten die Konferenzteilnehmenden das Gemeinsame des jüdischen und christlichen Glaubens. Sie unterstrichen, dass sich dieser Gott dem Volk Israel geoffenbart und mit ihm einen Bund geschlossen hat – auf ewig. Die Thesen zwei, drei und zehn brachten in Erinnerung, dass Jesus ein Jude war, ebenso Maria und Josef wie auch die Jünger und überhaupt die ersten Christinnen und Christen. Jesus wuchs als Jude auf, betete die Psalmen und besuchte Jerusalem auf der Wallfahrt mit den Pflegeeltern.
Die beiden Thesen sieben und acht befassen sich mit der Passionsgeschichte der Evangelien und warnen vor einer oberflächlichen Darstellung. Sie sollten keine innerliche Abneigung gegen heute lebende Juden erzeugen. Man verwahrte sich gegen die immer wieder aufgestellte These einer Kollektivschuld der Juden am Tod Jesu und erwähnte die Hauptverantwortung der Römer.
Die Seelisberg-Konferenz führte Juden und Christen zusammen an einen Tisch, was nach Auschwitz nicht selbstverständlich war. Die deutsche Sprache wurde ebenso gemieden wie Deutschland als Versammlungsort. Es kam zu einem umfassenden Lernprozess der Christen in ihrem Verhältnis zum Judentum, und zwar sowohl in der evangelischen wie auch in der katholischen Theologie. Abbé Charles Journet (1891–1975), der spätere Kardinal, spielte eine wichtige Rolle. Man las die Bibel neu und entdeckte Stellen wie im Römerbrief die Kapitel neun bis elf, die von Gottes unauflöslichem Bund mit Israel handeln.
Die Seelisberger Thesen und weitere Neuansätze führten im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) zu Nostra Aetate Nr. 4, einer offiziellen Verhältnisbestimmung zwischen Christen und Juden. Dieser Text wird zur Ausgangsbasis für den christlich-jüdischen Dialog in der postkonziliaren Phase. Er wurde aufgegriffen durch heutige jüdische Theologen wie David Flusser, Pinchas Lapide und Ernst L. Ehrlich. Schalom Ben-Chorin verfasste 1967 ein beidseits akzeptiertes Buch mit dem Titel «Bruder Jesus». Juden und Christen sind vereint im Menschen Jesus; sie unterscheiden sich in Bezug auf Christus, den Sohn Gottes.
Am 11. September 2000 haben vier jüdische Gelehrte aus den USA nach einer mehrjährigen innerjüdischen Auseinandersetzung in zwei amerikanischen Tageszeitungen die Erklärung «Dabru Emet» (Redet Wahrheit) veröffentlicht. Darin wollten sie den Richtungswechsel in der Beurteilung des Judentums, den eine grosse Zahl der christlichen Kirchen in den letzten 40 Jahren vollzogen hat, anerkennen und von jüdischer Seite den theologischen Dialog mit den Christen wieder aufnehmen. So macht es Sinn, der Seelisberger Konferenz und der Seelisberger Thesen heute – 75 Jahre nach der Versammlung – zu gedenken.
*Stephan Leimgruber (*1948) aus Luzern war Vikar in Zug und in München Professor für Religionspädagogik. Sein Forschungsschwerpunkt war «interreligiöses Lernen».