Mein Partner (36) ist viel in Chats unterwegs, wo er sich mit Männern und Frauen austauscht. Manchmal wird es recht persönlich und auch erotisch. Er erzählt mir (32) dann davon. Und ich finde es noch reizvoll, dass andere ihn begehren. Er schlägt mir vor, auch zu chatten. Könnte das frischen Wind in unsere Partnerschaft bringen?
Das kann tatsächlich so sein, wenn man neugierig und offen ist wie Sie beide. Vor allem am Anfang. Die Erzählungen des anderen über Erlebnisse beim Chatten können sehr spannend sein und das eigene Begehren anfachen. Auch Fantasien werden angeregt, was die Leidenschaft verstärken kann.
Bei manchen Paaren kippt es aber irgendwann: Einer von beiden realisiert vielleicht, dass die Bedeutung eines Chatpartners stark zunimmt – dass diese Person nicht mehr eine von vielen, sondern jemand Besonderes geworden ist: Fotos werden ausgetauscht, jede neue Nachricht wird mit Spannung erwartet. Und es wird dem Lebenspartner auch nicht mehr alles erzählt.
Die Chatbeziehung wird zu einer Nebenbeziehung.
Oftmals möchte oder fordert der andere dann aus Sorge um die Paarbeziehung, dass der betreffende Chat zu beenden sei. Der chattende Partner ist dazu aber vielleicht nicht bereit. Nicht selten versucht er dann, die Chatbeziehung zu erhalten, indem sie im Geheimen weitergeführt wird.
Das Chatten kann auch zur Sucht werden: Es ist aufregend, Hormone werden ausgeschüttet, man fühlt sich aktiviert und vital. Im Chat kann ein anderer Teil des Selbst gezeigt, entwickelt und ausgelebt werden. Riskant wird es wie bei jeder Suchtproblematik, wenn andere Lebensinhalte wie Hobbys oder soziale Kontakte vernachlässigt werden.
Es könnte sinnvoll sein, sich zu fragen, welche Bedürfnisse das Chatten abdeckt: Vermutlich fehlt dem Betreffenden etwas in seinem Leben: Geht es darum, verstanden zu werden, Bestätigung zu erhalten? Fehlen Abwechslung und Neues? Welche anderen Möglichkeiten gäbe es, diese Bedürfnisse zu erfüllen?
In Ihrem Fall könnte folgende Fragen interessant sein: Welche Alternativen gäbe es, um wieder frischen Wind in die Paarbeziehung und Sexualität zu bringen? Was möchten Sie miteinander erleben – wieder einmal oder endlich einmal? Was möchten Sie gemeinsam entwickeln? Was ist so wertvoll, dass Sie es erhalten und eventuell intensiver pflegen wollen? Und was möchten Sie hinter sich lassen, da es nicht mehr bereichernd, langweilig oder störend ist? Nützen Sie Ihre Offenheit, um sich miteinander über Ihre Partnerschaft und Sexualität auszutauschen.
Wenn das Chatten dann zu den Dingen gehört, die Sie ausprobieren möchten, tun Sie es! Seien Sie sich der Risiken bewusst und besprechen Sie miteinander, wie Sie damit umgehen wollen. Und seien Sie insbesondere ehrlich sich selbst gegenüber, wenn Sie zu verheimlichen beginnen: Warum tun Sie das und was bedeutet es? Können Sie dazu stehen oder sollten Sie offenlegen? Beziehungen in Chats beginnen sehr unverbindlich und anonym. Sie können sich aber verändern und persönlicher werden. Dessen sollte man sich bewusst sein.
*Birgit Kollmeyer, dipl. Psychologin, Paar- und Sexualtherapie, Bern