Wasserscheiden Europas
Hier kann ein Regentropfen in drei unterschiedliche Meere fliessen – je nach Wind

Wasser ist das Erdöl des 21. Jahrhunderts. Das prophezeit Wissenschaftsjournalist Mathias Plüss in seinem neuen Buch über die Wasserscheiden Europas und ihre entspringenden Lebensadern. Und deren Schwachstellen.

Sabine Kuster
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Dreifach-Wasserscheide auf dem Pass Lunghin.

Dreifach-Wasserscheide auf dem Pass Lunghin.

Regina Hügli

Es gibt zwei Flecken in der Schweiz, an denen niemand weiss, in welche Himmelsrichtung das Regenwasser fliessen wird: Tripelpunkte. Ein Mann im Gotthardgebiet beschrieb den Tripelpunkt Witenwasseren einst anschaulich:

«Wenn du dort auf eine bestimmte Steinplatte brünzelst, geht das Wasser je nach Windrichtung in die Nordsee, ins Mittelmeer oder in die Adria.»

Einen ebensolchen Punkt gibt es auch auf dem Pass Lunghin, der Mittelbünden vom Engadin trennt. Und zwei ausserhalb der Schweiz: Auf dem Plateau de Langres nördlich von Dijon in Frankreich und auf dem Berg Klapperstein an der tschechisch-polnischen Grenze. Von jedem Punkt fliesst Wasser in drei unterschiedliche Meere.

Wissenschaftsjournalist Mathias Plüss hat die vier Tripelpunkte Europas zusammen mit Fotografin Regina ­Hügli bereist, denn es ist klar: Wasser wird in den kommenden Jahrzehnten immer wichtiger. Das Buch mit zwölf Reportagen aus diesen vier Regionen nennt er kurz «Wasserbuch».

Handel mit Wasser ist für Nestlé zum Imageproblem geworden

Plüss schneidet unterschiedliche Probleme und Lösungen an: Vierzig Kilometer vom französischen Tripelpunkt entfernt gibt es bei Vittel einen bewaldeten Hügel. Der ganze Hügel, hundert Meter lang, zehn hoch und dreissig breit, besteht aus deponierten und überwachsenen Vittel-Plastikflaschen, das haben Bewohnern des Dorfes 2021 bekannt gemacht. Für Nestlé, welche die Vittel-Quellen heute nutzt, ist das ein einziges Image-Desaster.

Mathias Plüss, Wissenschaftsjournalist.

Mathias Plüss, Wissenschaftsjournalist.

Severin Bigler

Weil zudem der Grundwasserspiegel früher pro Jahr um einen Meter sank und heute noch um 30 Zentimeter, wollte man das Dorf aus einer anderen Gemeinde mit Wasser versorgen, damit Nestlé weiter Vittel-Wasser verkaufen kann. Dieses Vorhaben ist nach Protesten gescheitert. Das Wassergeschäft, zitiert Plüss einen Analytiker der Zürcher Kantonalbank, ist so imageschädigend geworden, dass Nestlé bald ganz aussteigen könnte.

Umkämpft bleibt der Wassermarkt weltweit. Denn, so der Autor: «Ohne Öl kann der Mensch leben. Ohne Wasser nicht.» Und Wasser lässt sich nicht vermehren, stattdessen ist es in einem ewigen Kreislauf und die Frage ist: Wer hält wo seine Hand in den Kreislauf.

Alle wollen das Wasser aufhalten

Weltweit sind 500 neue Staudämme geplant in Gebieten, die jetzt schon oft zu trocken sind. Denn wenn der Ausstieg aus dem Ölzeitalter geschafft werden soll, damit sich die Erde nicht noch mehr erhitzt, braucht es andere Energiequellen. Staudämme aber verhindern, dass Bauern ihre Felder dann wässern können, wenn die Pflanzen das Nass bräuchten.

Andernorts werden Dämme gebaut gerade um zu verhindern, dass zu viel Wasser talwärts stürzt: So gibt es nördlich des Tripelpunkts an der polnisch-tschechischen Grenze einen Kessel, der von Bergen umgeben ist und deshalb stark überschwemmungsgefährdet. Deshalb werden nun grosse Rückhaltebecken gebaut, 1600 Leute sollen umgesiedelt werden.

Am Ende konnten sich auch hier die Bewohner durchsetzen: Noch während Plüss recherchiert, wird das grösste Projekt gestoppt. Stattdessen will man nun viele kleine Rückhalteflächen schaffen, wo Wasser im Boden gespeichert wird und so auch Dürren bekämpft.

Wassersparen kommt erst noch

Mit der Klimaerwärmung werden die Extreme häufiger, denn die Verdunstung nimmt zu: Wenn es einmal regnet, ist die wärmere Luft mit mehr Wasser angereichert und es kommt zu Sturzregen, der vom Boden kaum ­aufgenommen werden kann und schlimmstenfalls Humus fortschwemmt. Gleichzeitig werden Dürren zur Normalität. Während alle von Stromsparen reden, schreibt Plüss in seinem Vorwort:

«Es braucht dringend einen Sinneswandel. Wassersparen muss auch im Norden zum neuen Volkssport werden.»

Doch die Tripelpunkte der Europäischen Hauptwasserscheide, die sich wie ein hydrologisches Rückgrat durch Europa zieht, liefern auch kleinere Geschichten. Wie jene vom Morteratschgletscher, der mit Beschneiungsanlagen gerettet werden soll, bis man merkte, es geht nicht. Funktionieren würden: Zu Stupas aufgespritztes Eis, das im Sommer fortwährend Wasser spendet.

Das Wasserbuch. Vier Expeditionen im Herzen Europas. Mathias Plüss und Regina Hügli, 200 Seiten, 36 Franken, Echtzeitverlag.