Unsere Gastautorin findet, dass sich unser nördlicher Nachbar bei uns eine Scheibe abschneiden könnte.
Du hattest nun 16 Jahre eine Kanzlerin, die zum Rechten schaute, dann und wann auch zum Linken. Von manchen wurde sie Mutti genannt. Nun soll alles ändern. Kinder müssen erst mal lernen, dass auch ein Mann Kanzlerin werden kann. Kanzlerkandidaten müssen Koalitionen suchen. Sollen die Grünen und die Gelben mit den Roten oder den Schwarzen?
Ich schaue staunend zu dir nach Norden und sehe vor lauter Farben den Herbstwald nicht mehr.
Dabei könntest du es machen wie die Schweiz. Hier ist man schon viel weiter. In einer Art polyamoren Regenbogen-Elternschaft koalieren bei uns alle Parteien: Rot, Orange, Blau, Dunkelgrün und Sünneli-Gelb − «Fifty Shades of Rägeboge». Das funktioniert wunderbar. Natürlich geht das nicht ohne Diskussionen und Streitereien. Nur werden die Zwistigkeiten bei uns nicht an die grosse Glocke gehängt. Es sei denn, man zählt sich zu den Freiheitstrychlern. Das ist eine unterjochte Gruppierung in der Schweiz, welche sich symbolisch grössere Glocken umhängt, als sie bei Rindviechern erlaubt sind.
Ansonsten sind wir eher selten laut, leiser jedenfalls als deine Töchter und Söhne, wenn sie bei uns im Zug telefonieren oder in der Beiz nach dem Ober schreien. Ober gibt es bei uns sowieso nicht. Wir sind direktdemokratisch, freiheitsliebend, wir haben nicht gern Obere und Untere. Wir haben Servierpersonal. Der Ober ist bei uns eine Spielkarte, die beim Trumpf weniger wert ist als der Under. Bei uns wissen die Oberen in Bern, dass der Under das Sagen hat, wenn es drauf ankommt. Und manchmal trägt der Ober eine Schelle, aber keine grosse Treichle, eher so ein Narrenglöcklein.
Liebe Germania, schau dir unseren Bundespräsidenten an: Er ist verbunden mit der Scholle. An der Olma steuert er den Traktor-Simulator durch den Morast wie unser Land durch die Krise. Etwas kommt unter die Räder, ein bisschen Dreck bleibt hängen, aber irgendwie kommen wir durch. Er streichelt ein kleines Ferkel im Wissen, dass dieses danach geschlachtet wird. Bei dir, liebe Germania, wird das Wahlvolk gestreichelt und danach ausgenommen wie eine gemetzgete Sau. Bei uns wählen die alldümmsten Kälber gerne ihre Metzger selber. Bei dir wählten die allerbrävsten Ferkel nicht mal selber ihre Merkel. Wer regiert, bestimmt bei dir nicht die Volksmehrheit, sondern die Koalitionsverhandlung.
Bei deiner Schwester Helvetia hat immer die Mehrheit recht. Selbst dann, wenn eine Vorlage 99 Prozent des Volkes entlasten würde, darf die Mehrheit entscheiden, dass sie gar nicht entlastet werden will. Die Mehrheit darf entscheiden, dass sie nicht mehr Ferien möchte und kein tieferes Pensionsalter. Natürlich liegt die Mehrheit des Geldes und des Propaganda-Budgets auch bei uns nicht bei der Mehrheit des Volkes. Aber wir lassen uns nicht kaufen. Höchstens beeinflussen.
Bei dir, liebe Germania, ist das ja nicht besser. Die Autoindustrie hat die Wählerschaft fest im Griff. Man könnte denken, ihr seid ein Land von Auto-Sklaven. Selbst die bekannteste Linke ist ein Wagen-Knecht.
Deshalb hast du noch immer kein Tempolimit auf den Autobahnen. Bitte, führe auch keines ein! Wohin soll ich sonst meine rasenden Söhne schicken, wenn sie mal Gas geben wollen wie eine gesengte Sau? Wenn die Motoren laut aufheulen und sich von keiner Alarmglocke bremsen lassen, wenn sie sich nicht aufhalten lassen wollen von Ampelkoalitionen, die von Grün auf Rot springen? Bei mir ist zwar inzwischen rechts Überholen erlaubt, aber nur im lausigen Schneckentempo von 120 km/h.
Bleib wenigstens auf den Strassen liberal. Mir zuliebe.
Es grüsst vom Autoscooter an der Olma
deine kleine Schwester Helvetia.
PS: Und wenn du nichts von mir lernen willst, schiel nach Südosten zu Schwester Austria. So willst du doch auch nicht enden. Wenn ein kleiner Prinz auf dem Thron sitzt, der zu viel Zündeln toleriert, dann ist irgendwann Kurz-Schluss.
Patti Basler ist Satirikerin, Kabarettistin und Slampoetin.