Klimawandel
Wie der Ukraine-Krieg die Schweizer Forschung in der Arktis behindert – und warum das den Bund nicht kaltlässt

Die Folgen des Klimawandels sind in der Arktis besonders stark und sie haben weltweite Auswirkungen. Auch auf die Schweiz. Das zeigt ein neuer Report der Akademien der Wissenschaften. Nun sind weitere Untersuchungen notwendig, etwa in der russischen Tundra. Doch der Ukraine-Krieg droht jahrelange Arbeiten zunichtezumachen.

Stefan Bühler
Drucken
Forschung in den Weiten der russischen Tundra: Professorin Gabriela Schaepman-Strub bereitet eine Forschungsdrohne auf einen Flug vor.

Forschung in den Weiten der russischen Tundra: Professorin Gabriela Schaepman-Strub bereitet eine Forschungsdrohne auf einen Flug vor.

Jón Björgvinsson/SPI

Gabriela Schaepman-Strub hat seit 2009 jeden Sommer hoch im Norden in der russischen Tundra verbracht. «Sogar während Corona», sagt sie. Die Professorin der Universität Zürich untersucht dort mit ihrem Team, wie sich in dem sensiblen Ökosystem ein regenreicher Sommer oder anhaltende Trockenheit auf die Beschaffenheit der Böden, auf Pflanzen und Permafrost auswirken. Und seit in Sibirien gewaltige Brände wüteten, verfolgt sie mit wissenschaftlichen Methoden, wie sich die Tundra von diesem Extremereignis erholt – oder eben nicht erholt.

Diesen Sommer aber blieb der Forscherin und ihrer Gruppe die Reise verwehrt. Wegen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und der daraus folgenden Sanktionen. Sie verunmöglichte die Feldarbeit. Es ist ein Einschnitt, der ihre langjährige Forschungstätigkeit grundsätzlich in Frage stellt. Denn jeden Frühling muss Schaepman-Strub mit ihrer Gruppe die Installationen, Pumpen und Sensoren, mit denen auf den definierten Forschungsquadraten Nässe und Trockenheit simuliert wird, neu aufbauen. Und über den Sommer wird intensiv gemessen, werden Sensoren überprüft und – falls von Lemmingen oder Moschusochsen beschädigt – ersetzt.

Dank ihrer guten Beziehungen vor Ort sei es dieses Jahr zwar gelungen, die Untersuchung in reduziertem Umfang weiterzuführen. Ob aber die erhobenen Daten in die Schweiz geliefert werden, ist noch nicht klar. Das entscheiden russische Behörden. Und wie es im nächsten Sommer weitergeht, weiss Schaepman-Strub noch weniger. Im schlechtesten Fall gehen über 100’000 Franken verloren, die schon in das Projekt geflossen sind. «Da Entwicklungen in der Tundra sehr langsam vonstattengehen, ist es wichtig, über lange Zeit am gleichen Ort forschen zu können, um Veränderungen zu dokumentieren», sagt sie. Wird das Projekt in Sibirien abgebrochen, ist die Arbeit der letzten Jahre weitgehend verloren.

Der erste Schweizer Forscher durchquerte das Grönlandeis im Jahr 1912

Schaepman-Strub ist nicht die einzige Wissenschafterin, deren Arbeit in Russland wegen des Ukraine-Kriegs in Frage gestellt ist. Insgesamt seien alleine in der Polarforschung um die zehn Schweizer Forschungsgruppen betroffen. «Russland kontrolliert rund einen Drittel der Fläche der Arktis, hier ist die internationale Forschungszusammenarbeit nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt möglich.»

Die Professorin aus Zürich hat den Überblick. Denn nebst ihrem Engagement an der Uni leitet sie als wissenschaftliche Direktorin das Swiss-Polar-Institut. Es unterstützt und koordiniert die Schweizer Polar- und Arktisforschung. Ein Wissenschaftszweig, der mehr mit unserem Land zu tun hat, als zunächst zu erwarten wäre: Durch ihren eigenen Bezug zu Schnee, Permafrost und Eis interessiert sich die Schweiz schon lange wissenschaftlich für die Arktis. «Bereits 1912 durchquerte der Schweizer Wissenschaftspionier Alfred de Quervain das grönländische Inlandeis, um Erkenntnisse über Grönland und seine Gesellschaft zu gewinnen», heisst es dazu in einem soeben veröffentlichten Report der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Er befasst sich mit dem menschgemachten Wandel in der Arktis und der Rolle der Schweiz.

Unterwegs in Grönlands Eis: Arktisforscher Alfred de Quervain, 1912. (Archivbild)

Unterwegs in Grönlands Eis: Arktisforscher Alfred de Quervain, 1912. (Archivbild)

ETH-Bibliothek

Die hochalpinen Zonen seien mit den klimatischen Verhältnissen in der Arktis vergleichbar, heisst es darin: Die Durchschnittstemperaturen an der Erdoberfläche steigen hier wie dort etwa doppelt so stark wie im globalen Mittel. Entsprechend schnell schmelzen die Gletscher – wiewohl abhängig von der Grösse in unterschiedlichem Ausmass. So hat der grönländische Eisschild, der zweitgrösste Eiskörper des Planeten nach der Antarktis, seit 2002 jedes Jahr 279 Kubikkilometer Eis verloren. In der Schweiz sind die Gletscher im vergangenen, heissen Sommer so stark geschmolzen wie noch nie: Mehr als drei Kubikkilometer Eis gingen verloren, ein schier unvorstellbar riesiger Eiswürfel. In Grönland wäre dieser Würfel des verlorenen Eises freilich noch 90-mal grösser – sein Schmelzwasser trägt wesentlich zur Erhöhung des Meeresspiegels bei.

Die meisten Klimaschalter finden sich an den Polen

«Die Arktis ist (...) ein Schaltzentrum des globalen Klimas», heisst es im Report. Schaepman-Strub sagt: «Von neun bekannten Kippelementen des Klimasystems befinden sich sieben an den Polen.» Was das heisst? Zum Beispiel das hier: Geht in der Arktis die im Sommer mit Schnee und Eis bedeckte Fläche zurück, wird die Sonnenstrahlung weniger reflektiert und von den Böden stärker absorbiert. Das führt zu vermehrtem Auftauen des Permafrosts – und der Freisetzung von grossen Mengen der Treibhausgase Methan und CO2, die zuvor in den gefrorenen Böden gebunden waren. Bis zu 240 Gigatonnen könnten so zusätzlich in die Atmosphäre gelangen und das Klima weiter anheizen.

Die Arktis ist ein Hotspot des Klimawandels, das ist wörtlich zu verstehen.

Andere Effekte der Erderwärmung betreffen etwa die Beeinflussung der Meeresströmungen, mit möglichen Auswirkungen auf lokale Klimata auf der ganzen Welt. Es gäbe weitere Beispiele. Auf zwölf Seiten fassen die Akademien der Wissenschaften den Stand der Forschung zusammen – die meisten Erkenntnisse sind wenig ermutigend. Selbst der vermeintliche Vorteil, dass wegen der Eisschmelze neue, kürzere Schiffsrouten möglich werden und sich Rohstoffe im Polargebiet leichter ausbeuten lassen (woran auch Rohstofffirmen mit Sitz in der Schweiz ein Interesse haben), bergen für die Region und ihre Bevölkerung mehr Risiken als Chancen.

Es sind solche Zusammenhänge, an denen auch Schaepman-Strubs Gruppe in Sibirien forscht –, wenn sie denn wieder kann.

Auch auf politischer Ebene sind die Verbindungen gekappt

Vorerst sieht es nicht danach aus. Denn auch auf politischer Ebene sind die Grundlagen der Zusammenarbeit wegen des Ukraine-Kriegs gekappt. Der Arktische Rat, in dem die acht Anrainerstaaten zusammenarbeiteten, um in der Arktis gemeinsame Forschung, eine nachhaltige Entwicklung und ein friedliches Nebeneinander zu ermöglichen, «pausiert», wie das Diplomaten sagen: Aktuell hätte Russland den Vorsitz; nach dem Überfall auf die Ukraine ist eine Zusammenarbeit aber vorerst nicht mehr möglich.

Die Schweiz hat nicht zuletzt dank ihres wissenschaftlichen Engagements 2017 im Rat den Beobachterstatus erhalten. Die Hoffnung, dass der Arktische Rat dereinst wieder eine wichtige Rolle spielen kann, hat man im zuständigen Aussendepartement (EDA) noch nicht aufgegeben. «Die Arktis ist mit dem Rest der Welt verbunden», sagt EDA-Spezialist Grégoire Hauser, «was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis». Es müsse deshalb das Ziel sein, dass die Kontakte zwischen den Forschenden nicht verloren gehen und der Dialog weiterhin stattfindet.