Die jüngste politische Entwicklung könnte der Ostschweizer Informatikbranche gefährlich werden – auch wegen der Zürcher Konkurrenz. Es gibt aber Grund zur Gelassenheit.
Die Zahlen sind nicht mehr ganz frisch, aber immer noch aktuell: Im Jahr 2013 untersuchten die Ostschweizer Kantone zusammen mit Aargau, Zug und Zürich, welche Fachkräfte in der Region am häufigsten gesucht werden. Spitzenreiter waren die Ärzte, dicht gefolgt von den Ingenieuren und Programmierern. Die Studie mit dem Titel «Amosa-Fachkräftemangelindikator» ist eine der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema für die Ostschweiz. Und sie zeigt: Die ICT-Branche (engl. Information and Communication Technology) leidet unter den gleichen Mangelerscheinungen wie die Medizin und die Industrie.
Vor 20 Jahren war die Ostschweiz noch ein weisser Fleck auf der Weltkarte der Informatik. Inzwischen hat die Region markant aufgeholt. Zwischen Bodensee und Walensee beschäftigen heute annähernd 2000 ICT-Unternehmen rund 15 000 Personen. Die Zahlen stammen von der Organisation St.Gallen-Bodensee Area, der gemeinsamen Standortförderung der Kantone St.Gallen, Thurgau und beider Appenzell. Die St.Gallen-Bodensee Area ist auch eine der Organisationen, die hinter der Kampagne «IT St.Gallen rockt!» steht. Die Kampagne wurde im März 2013 lanciert, um dem Fachkräftemangel in der Informatikbranche in der Region entgegenzuwirken. Das Logo von «IT St.Gallen rockt!» ist dem Signet der australischen Hardrock-Band AC/DC nachempfunden, auf der Homepage des Trägervereins inszenieren sich Informatikfachleute aus der Region als Rockmusiker. Die Kampagne soll Coolness und Attraktivität vermitteln – Informatiker sind nicht mehr länger eigenbrötlerische Fachidioten, sondern Computerhelden mit E-Gitarre und Sexappeal, so die offenkundige Botschaft. Mittlerweile haben sich der Initiative 47 Unternehmen angeschlossen, darunter grosse Namen der Branche wie Abacus, Abraxas, Adcubum, Haufe-Umantis, Leica, Movento, Namics oder VRSG. Auch andere Grossunternehmen und Bildungsinstitute wie Raiffeisen, Migros Ostschweiz, Swisscom, die HSG, die Fachhochschulen St.Gallen, Rapperswil und Buchs machen mit.
Dass sich die Branche in der Region so rasch und umfassend organisiert hat, zeigt vor allem, wie tief die Sorgenfalten schon sind. ICT-Unternehmen haben immer mehr Mühe, genügend Spezialisten zu finden. Diese Tendenz hat sich mit den jüngsten politischen Entwicklungen zusätzlich verschärft. Als Reaktion auf das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP im Februar 2014 senkte der Bundesrat die Kontingente für Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten um 2000 Einheiten. Pro Jahr gibt es seither noch 2500 Aufenthaltsbewilligungen (B) und 4000 Kurzaufenthaltsbewilligungen (L). Dieses Jahr könnte die Lage für die Wirtschaft zum ersten Mal prekär werden: Ende August waren noch 89 B-Bewilligungen und 532 L-Bewilligungen zu haben (Ausgabe vom 7. September).
Trotz der sich abzeichnenden Engpässe gibt man sich in der Ostschweiz gelassen. «Grundsätzlich finden sich gut ausgebildete IT-Mitarbeitende auch in unserem Arbeitsmarkt», sagt Peter Kuratli, Leiter Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons St.Gallen. «Die Erfahrung zeigt, dass bei ausgewiesenem Bedarf an Spezialisten, die auf dem hiesigen Arbeitsmarkt nicht gefunden werden können, durchaus Kontingente vorhanden sind. Dies auch deshalb, weil die Kontingente gezielt eingesetzt werden.»
Kuratli rechnet damit, dass bei Bedarf genügend Kontingente für Informatiker zur Verfügung stehen. Auch was die Situation nach der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative angeht, zeigt er sich optimistisch. «Wir gehen davon aus, dass ein tatsächlicher Fachkräftemangel auch weiterhin durch Rekrutierungen aus dem Ausland gedeckt werden kann. Trotzdem bleiben wir am Ball und setzen alles daran, auch im Kanton St.Gallen Personen aus- und weiterzubilden.» Kuratli verweist auf entsprechende Projekte, darunter etwa die Informatikmittelschule, Qualifizierungsmassnahmen der Arbeitslosenversicherung oder eben Initiativen wie «IT St.Gallen rockt!». Kuratli weiss auch: Der Mangel an Informatikfachleuten ist längst nicht nur in der Branche selber ein Thema. Im November 2015 forderte die IHK St.Gallen-Appenzell ein Informatikstudium an der Universität St.Gallen. Zur Abklärung der Idee machte der Wirtschaftsverband gleich selber 200 000 Franken locker. Von einer Alarmstimmung will man aber auch bei Grossunternehmen nichts wissen. «Es ist in der Ostschweiz für uns nicht schwieriger als in anderen Regionen der Schweiz, gut qualifizierte ICT-Mitarbeitende zu finden», sagt Swisscom-Sprecherin Annina Merk. Für sehr spezialisiertes ICT-Know-how sei es generell schwieriger geworden, an gute Fachkräfte zu kommen. An sämtlichen Standorten in der Schweiz achte man aber darauf, in erster Linie regionales Personal einzustellen, so Merk. «Daher liegt der Anteil an Mitarbeitenden aus den jeweiligen Regionen in allen Bereichen und auf allen Hierarchieebenen hoch.»
Laut Branchenkennern kämpfen die Ostschweizer ICT-Unternehmen zwar mit den gleichen Problemen wie in anderen Regionen – allerdings mit leicht verschobenem Schwerpunkt. Das Reservoir an Spezialisten deckte den Bedarf in der Region noch nie, Grenzgänger aus Vorarlberg und Baden-Württemberg sind in St.Galler ICT-Firmen seit Jahren Standard. Gleichzeitig hat die Ostschweiz ein Binnenkonkurrenzproblem: Allein im Kanton Zürich arbeiten 67 600 Personen im Informatikbereich – das entspricht einem Drittel aller ICT-Beschäftigten in der Schweiz. Die Ostschweizer Massnahmen gegen den ICT-Fachkräftemangel sind deshalb vor allem eine Kampfmassnahme gegen die Sogwirkung der Region Zürich. Im Gegensatz zu den Platzhirschen der Branche – etwa die Schweizer Niederlassungen von Google, Microsoft, Apple oder IBM – können Ostschweizer ICT-Firmen zudem kaum auf Fachkräfte aus Drittstaaten wie den USA zurückgreifen. Denn gerade regional verankerten Firmen wie Abraxas, Abacus oder VRSG sind stark auf einheimisches Personal angewiesen, nicht zuletzt wegen ihrer Ausrichtung auf Dienstleistungen für öffentliche Verwaltungen und Organisationen im staatlichen Umfeld.
In der Ostschweiz sind diese Probleme bekannt. Zwar spricht niemand laut darüber – aber man hat sich bereits warm angezogen für den Kampf um die besten ICT-Fachkräfte.