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Ein junger Thurgauer erlebt nach einem Autounfall in Kalifornien ein böses Erwachen. Obwohl er bei der Autovermietung eine Versicherung abgeschlossen hatte, die alle Schäden deckt, wurde er auf eine Million Dollar Schadenersatz verklagt.
Erst dachte er, es sei ein Versehen oder ein dummer Scherz. Das Schreiben trug das Signet einer Anwaltskanzlei in Los Angeles. Benjamin Obwegesers Name und Adresse waren korrekt. Hastig machte er sich daran, den Stapel von Dokumenten am Computer zu übersetzen. Da durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Es war weder ein Scherz noch ein Versehen. Er wurde auf eine Million Dollar verklagt. Seine Gedanken rasten, er sah plötzlich wieder jene Kreuzung vor sich, auf der es vor anderthalb Jahren zu einer verhängnisvollen Begegnung gekommen war.
Obwegeser war im Sommer 2015 zwei Monate lang in San Francisco in einer Sprachschule gewesen und hatte dann einen Roadtrip durch den Westen der USA begonnen. Ein lang gehegter Wunsch des damals 22-jährigen Thurgauers. Im Herbst wollte er an der ETH in Zürich sein Studium der Materialwissenschaften beginnen.
Sie waren zu viert unterwegs – alles Schweizer, die sich über eine Reiseplattform kennen gelernt hatten. Obwegeser hatte am meisten Fahrpraxis. Deshalb setzte er sich ans Steuer des Mietwagens. Die erste Etappe führte auf dem Highway 1 entlang der Küste nach Los Angeles. Dort hatte der Thurgauer Bekannte, bei denen die Gruppe übernachten konnte.
Eine Ampel zeigte Grün. «Ich hätte lieber noch ein paar Sekunden länger gewartet», sagt Benjamin Obwegeser im Nachhinein. Die Kreuzung war belebt und unübersichtlich. Die Ampel gegenüber zeigte Grün – das Signal über ihren Köpfen hatten sie übersehen. Es leuchtete rot. Obwegeser liess den Wagen im Schritttempo auf die Kreuzung hinausrollen – ein zweites Auto raste von der Seite auf sie zu. An den Moment des Aufpralls kann sich Obwegeser nicht mehr erinnern.
«Ich weiss nur noch, dass wir plötzlich quer auf der Kreuzung standen. Zuerst fragte ich meine Kollegen, ob es allen gut gehe. Dann fuhr ich zur Seite. Das andere Auto stand auch am Rand – ich weiss nicht, ob durch den Unfall oder ob es die Fahrerin noch dorthin gefahren hat.»
Das passiere an dieser Kreuzung häufiger, ärgerte sich der Polizist, der kurz darauf am Unfallort erschien. Trotzdem fühlte sich Benjamin Obwegeser schuldig. Er wollte mit der Lenkerin sprechen und ihr sagen, wie leid es ihm tue. Doch sie stand unter Schock, war kaum ansprechbar. «Abgesehen von ein paar Prellungen durch den Airbag wirkte sie körperlich gesund», erinnert sich Obwegeser. Jedenfalls habe sie sich geweigert, in die Ambulanz einzusteigen.
Benjamin Obwegeser und seine Mitreisenden wandten sich an den Autovermieter, der einen Abschleppwagen schickte und ihnen schliesslich ein neues Auto zur Verfügung stellte. Nach einem kurzen Check im Spital konnte die Gruppe ihren Trip fortsetzen. Doch die Unbeschwertheit war dahin, der Rest der Reise sei überschattet gewesen vom Schock des Unfalls.
Benjamin setzte sich am nächsten Tag wieder ans Steuer – ein Rat, den ihm seine amerikanische Bekannte am Abend nach dem Vorfall gegeben hatte. Doch die Erinnerung an den Zusammenprall steckte ihm noch in den Knochen. Und nicht nur ihm: Auch seine Mitreisenden sassen wie auf Nadeln. Die Stimmung blieb gespannt. Zurück in San Francisco trennte sich die Gruppe rasch.
Als Benjamin Obwegeser die Klageschrift anderthalb Jahre später erhielt, war der Sommer in Kalifornien weit weg, der Unfall in Los Angeles nur noch eine schlechte Erinnerung. Doch die Klage stellte sein Leben auf den Kopf. Eine Million Dollar Schadenersatz – das war weit jenseits seiner Möglichkeiten. «Ich überlegte krampfhaft, ob ich nun das Studium abbrechen und das Geld verdienen müsse», erinnert er sich. Dabei hatte er sich sicher gefühlt, denn bei der Autovermietung hatte er eine Versicherung abgeschlossen, die alle Schäden deckt.
Obwegeser telefonierte und mailte los – mit seinem Vater, der Versicherung und dem Autovermieter Alamo. Allein bis klar war, welche Stelle zuständig ist, verging ein halbes Jahr. Für Obwegeser eine schwierige Zeit.
«Ich hatte einige schlaflose Nächte.»
«Erst als mir die Versicherung des Autovermieters eine Anwältin stellte, bekam ich das Gefühl, dass ich nicht allein bin. Erst da fühlte ich mich nicht mehr komplett verloren.» Trotz der juristischen Unterstützung blieb der Fall undurchsichtig. Die Klägerin sagte, sie habe nach dem Unfall Rückenprobleme gehabt, die auf die Kollision zurückgingen, und sich operieren lassen. Die Versicherung focht diese Behauptung an.
Monatelang war Benjamin Obwegeser im Ungewissen. Musste er in die USA reisen? Würde die Versicherung alles übernehmen oder würde ein Teil der Prozesskosten an ihm hängen bleiben? Wie lange würde sich der Prozess noch hinziehen?
Seine erste Rechtsvertreterin legte den Fall nieder. Sein neuer Anwalt übermittelte ihm ein Dokument des Los Angeles County Superior Court: das Geständnis, dass er bei Rot auf die Kreuzung gefahren war. Der Anwalt riet ihm, das Papier zu unterzeichnen. Damit sei der Weg frei für eine zivile Einigung. Weitere Konsequenzen hatte das Schuldeingeständnis nicht. Obwegeser bekam nicht einmal eine Busse.
Kaum hatte er unterschrieben, kam der nächste Schock. Die Anwälte der Klägerin verlangten nun plötzlich zwei Millionen Dollar. «Da habe ich mich schon sehr unwohl gefühlt», erinnert sich Obwegeser. Denn seine Versicherung deckte nur Schäden bis zu einer Million.
«Zwei Millionen fand ich komplett übertrieben.»
«Aber ich wusste halt nicht recht, wie das in den USA funktioniert. Dass die Anwälte gern mal sehr hoch einsteigen, war mir nicht bewusst.» Die Verhandlungen über die Schadenssumme hatten schon begonnen, bevor Obwegeser seine Schuld eingestand. Die Versicherung bot der Klägerin 250'000 Dollar, diese lehnte ab. Eine Einigung schien unmöglich, alles sah danach aus, dass es zu einem Gerichtsfall kommen würde.
Die Wende kam erst, als Obwegesers Versicherung einen Privatdetektiv anheuerte, der die Klägerin observierte. Er filmte, wie sie ohne Probleme Schachteln herumtrug – was so gar nicht zu den Schilderungen über ihre gesundheitlichen Probleme passte.
«Als ich das Video sah, kam mir das ganze Verfahren extrem merkwürdig vor. Ich wusste, dass wir jetzt etwas in der Hand haben, mit dem wir verhandeln können. Ich glaubte zum ersten Mal, dass die Sache vielleicht doch noch gut enden würde.» Das war im Januar 2019 – zwei Jahre, nachdem er die Klageschrift erhalten hatte.
Nur einen Monat später erhielt er die Nachricht. Die Anwälte hatten einen Deal abgeschlossen. Die Klägerin würde 650'000 Dollar erhalten – weniger als gefordert, aber deutlich mehr als ursprünglich angeboten. Am wichtigsten für Obwegeser war aber: Der Betrag lag unter der Ein-Millionen-Grenze, er war aus dem Schneider.
«Ich machte mir aber selbst da noch Sorgen, dass der Fall vielleicht doch nicht vorbei ist und die Gegenpartei mich einklagt. Aber mein Anwalt konnte mich schliesslich beruhigen, dass mit dem Vergleich die Sache ein für alle Mal abgeschlossen war. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Ich wusste: Jetzt kann ich wieder unbelastet nach vorn blicken. Vorher war da immer diese Unsicherheit, die das unmöglich machte.»
In die USA zurückkehren würde Benjamin Obwegeser trotz alledem. «Was ich aus dem Sprachaufenthalt mitgenommen habe, diese Offenheit und Freundlichkeit der Leute, das ist ja immer noch wahr. Ich bin auch der Klägerin nicht böse. Ich finde es nur schade, dass gleich alles über Anwälte lief und es keinen direkten Kontakt gab. Aber ich glaube, auch das ist halt ein Teil der amerikanischen Kultur.»
Gern hätte er sich mündlich bei der Frau entschuldigt. Doch ein persönlicher Kontakt kam während des ganzen Verfahrens nie zu Stande. Böse ist er ihr deswegen nicht. «Ich bin froh, dass es vorüber ist und dass wir eine für beide Seiten passende Lösung gefunden haben. Und hoffe, dass es ihr gut geht.»
Hinweis: Dieser Text erschien zuerst im «Beobachter» 4/2020