Irgendwo zwischen grottenschlecht und genial

Leute, die gerne Jazz hören, sind kultivierte Menschen mit rücksichtsvollen Umgangsformen. Könnte man meinen. Schliesslich hat schon Miles Davis gesagt, Jazz bilde «eine Brücke von Mensch zu Mensch». Womit wohl nicht zuletzt die Brücke zwischen Musiker und Zuhörer gemeint ist.

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Pianist Urs C. Eigenmann. (Bild: Reto Martin)

Pianist Urs C. Eigenmann. (Bild: Reto Martin)

Leute, die gerne Jazz hören, sind kultivierte Menschen mit rücksichtsvollen Umgangsformen. Könnte man meinen. Schliesslich hat schon Miles Davis gesagt, Jazz bilde «eine Brücke von Mensch zu Mensch». Womit wohl nicht zuletzt die Brücke zwischen Musiker und Zuhörer gemeint ist. Dass das Klischee mindestens teilweise nicht zutrifft, beweist nun ausgerechnet der Kabelsender Radio Swiss Jazz.

Auf dessen Internetseite können Hörerinnen und Hörer anonyme Kommentare zu den gespielten Musikstücken abgeben. Der Sender leitet die Bemerkungen der namenlosen Kritiker an die Künstler weiter.

«Unbrauchbare Kritik»

Zu den Schweizer Jazzmusikern, deren Platten das Radio spielt, gehört auch der Flawiler Pianist Urs C. Eigenmann.

Der 62-Jährige findet den Sender «wahrlich eine tolle Sache» – doch über die anonymen Kommentare, die ihm ins Haus flattern, kann er nur den Kopf schütteln. Kein Wunder: Das, was die Hörer etwa zu seinem Klaviersolo «Spanish Trip» vernehmen lassen, hat für den Pianisten mit brauchbarer Kritik wenig zu tun – eher komme es ihm vor wie eine neue Form von Lyrik:

«Dieses Pseudo-Klassik-Gebrünzel ist weder Jazz, Blues, Soul noch Klassik.» – «Merveilleux!» – «Einfach Geklimper» – «Super!» – «Monoton» – «Dieser Stil erinnert mich an Keith Jarrett!!!» – «Was hat das mit Jazz zu tun?» – «Grottenschlecht» – «Stil gefällt sehr gut» – Mühsam, mühsam...» – «Kommentar überflüssig – Schrott!!!».

Damit, dass solche Kommentare tatsächlich überflüssig sind, dürfte der Pianist zumindest einverstanden sein: «Ich frage mich, was ich denn als Musiker mit diesen Sachen anfangen soll», schreibt Eigenmann – er könne ja nicht darauf reagieren. Dass seine Musik nicht allen gefalle, sei logisch. «Mir würde es nie in den Sinn kommen, einem Musikmachenden meine Meinung über die gespielte Musik anonym zu schicken.» Dass ein Kritiker seine Kontaktdaten hinterlasse, sei unerlässlich, meint der Pianist.

«Klamauk und Kakophonie»

Mag sein, dass neben der Anonymität auch die geographische Distanz zum bewerteten Künstler eine Rolle spielt. Einige frankophone Hörer tragen besonders dick auf: «Nicht mal an meiner Beerdigung würde ich solch eine Kakophonie hören wollen.» Oder: «Haben Sie Mitleid und verschonen Sie uns vor dieser schwülstigen und eingebildeten Darbietung bedenklicher Spieltechnik.» Dass der Satz im französischen Original ebenfalls einer schwülstigen Darbietung ähnelt, sei nur am Rande bemerkt.

Knapper geht es offenbar in Englisch: «I never want to hear this again.»

Sender will darüber reden

Eigenmann wehrte sich beim Sender gegen die in seinen Augen «nicht akzeptable Anonymität» der Kommentare. Die Verantwortlichen erklärten, das Internet biete dem Radio die Möglichkeit, mit den Hörern in Kontakt zu stehen, was sehr wichtig sei. Man werde die Form der einseitigen Kritik aber demnächst diskutieren.

Eigenmann stellte sich für solch eine Diskussion sogleich zur Verfügung – als brückenbauender Jazzer, ganz im Sinne von Miles Davis.

Adrian Vögele