Interview
«Es hilft zu sagen, ich vermisse Dich»: Die Rheintaler Psychotherapeutin Paula Kunze erklärt, wie sich die Corona-Erfahrung auf die Psyche auswirkt

Wie wirken sich die Corona-Erfahrungen auf die Psyche aus? Antworten auf diese und andere Fragen gibt Psychotherapeutin Paula Kunze.

Benjamin Schmid
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Paula Kunze, psychologische Psychotherapeutin im Psychiatrie-Zentrum Rheintal.

Paula Kunze, psychologische Psychotherapeutin im Psychiatrie-Zentrum Rheintal.

Bild: pd

Beinahe zwei Monaten dauerte der Lockdown wegen des Coronavirus an. Jetzt entspannt sich die Lage allmählich; Schulen und Geschäfte haben geöffnet, viele Leute gehen wieder ins Büro zu Arbeit. Doch das Virus ist damit nicht einfach verschwunden. Weiterhin gilt es, Abstand zu anderen zu halten; grössere Versammlungen sind nicht erlaubt. Viele Menschen sind nach wie vor verunsichert oder haben Angst. Wie wirken sich die Corona-Erfahrungen auf die Psyche aus?

Paula Kunz, hatten Sie schon mit einer vergleichbaren Krise zu tun?

Paula Kunze: Nein, niemand von uns hat jemals so eine Extremsituation erlebt. Teilaspekte habe ich bei anderen Seuchen erlebt. Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe speziell nach der Wiedervereinigung Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen erlebt, aber alles miteinander kennen die wenigsten von uns. Diese neue Situation birgt grosse Unsicherheit für Viele: Angst um physische Gesundheit und wirtschaftliche Folgen. Wie schlimm ist es überhaupt und wie geht es weiter?

Fühlen Sie sich wegen Social Distancing allein und einsam?

Allein sein bezeichnet die physische Abwesenheit von Anderen als Fakt. Einsamkeit ist ein Gefühl. Nicht dazuzugehören, nicht verbunden oder emotional nahe zu sein. Das Gefühl von Einsamkeit geht nicht zwingend mit der Abwesenheit von anderen einher und umgekehrt. Im Beruf trete ich mit vielen Menschen in Kontakt, da geniesse ich die Freizeit gerne für mich alleine. Aber die von aussen erzwungene Isolation fühlt sich komisch an. Mein Netzwerk entfällt, ebenso der Anlass, sich zu treffen. Die Grenzen sind dicht und meine Freunde und Familie wohnen in Berlin. Mir fehlen Umarmungen, und auch das Händeschütteln.

Wie gehen Sie mit diesen Gefühlen um?

Ich suche mit Anrufen, Textnachrichten und Videotelefonie gezielt den Kontakt zu wichtigen Bezugspersonen. Ich habe seit Jahren wieder einmal einen Brief geschrieben. Die Zeit scheint still zu stehen. Es ist wichtig, sich unseren Bedürfnissen zu widmen und die Gefühle ernstzunehmen. Es hilft, den Menschen zu sagen, «ich vermisse dich» und «du bist mir wichtig». Im Idealfall kommt es zurück.

Warum fällt manchen Menschen das Alleinsein schwer?

Grundsätzlich sind wir soziale Wesen, Rudel- und Herdentiere. Ein Neugeborenes kann alleine nicht überleben, braucht Nahrung, Wärme und Schutz, aber auch emotionale Nähe. Fehlen Berührungen und Zuwendungen, kommt es zu massiven Störungen in der Psyche. Die ersten Menschen lernten, dass sie nur in der Gruppe erfolgreich und überlebensfähig sind. Individuen haben höhere Überlebenschancen, wenn sie sich binden. Ausserdem ist der Wunsch nach Geselligkeit tief in uns verankert. Wegen Social Distancing wird dieses Grundbedürfnis nach Maslow nicht befriedigt.

Wieso reicht uns der virtuelle Austausch nicht?

Uns fehlen die Berührungen. Körperkontakt regt die Oxytozinproduktion an. Das Hormon fördert die Paarbindung und die Partnererkennung, vermindert gleichzeitig das generelle Angstverhalten, legt Stresssysteme ruhig und steigert das allgemeine Wohlbefinden.

Neueste Forschungen belegen, dass uns ein gewisses Mass an Alleinsein guttut?

Manchmal. Die Dosis macht das Gift. Zu viel Nähe kann auch ein Stressfaktor sein. Über digitale Medien pflegen wir enge Kontakte zu anderen Menschen, sind immer verfügbar und ständig erreichbar. Dazu kommt die Angst, etwas zu verpassen. Ständig online zu sein, ist nicht mehr nur das Höchste der Gefühle. Die digitale Entgiftung, der digital Detox, gehört zum modernen Leben. Entscheidend ist die Wahlfreiheit. Darf ich selber über das Ausmass entscheiden, wie viel Kontakt ich haben möchte?

Wie schädlich ist Social Distancing für uns?

Wir müssen eine aktive Rolle übernehmen und bewusste Entscheidungen treffen. Wir müssen für uns und unsere Psyche schauen. Social Distancing macht uns nicht krank, aber beeinflusst uns. Ebenso wie uns die Angst vor einer Wirtschaftskrise oder einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems beeinflusst. Die Unsicherheit, wie es weitergeht, macht uns auch zu schaffen.

Einsamkeit kann auch ein Symptom von Depression sein. Kann das Alleinsein in der Wohnung folglich zur Depression führen?

Sowohl als auch: Dass Einsamkeit ein Stressor ist, ist genetisch festgelegt. Wie viel Stress wir ertragen können, ist individuell verschieden. Die Psychologie liefert keine klaren Antworten. Wie immer ist nicht ein Faktor alleine verantwortlich. Die spezielle Lage kann zu einer Zunahme von Schlafstörungen, Angsterkrankungen und Psychosen führen. Aber auch die Gewalt- und Suchtproblematik verschärfen sowie Zwangsstörungen fördern. Für manche kann das Wegfallen des Händeschüttelns aber auch befreiend wirken.

Wann wird die Isolation gefährlicher als das Virus selbst?

Das frage ich mich auch. Diese Frage beschäftigt uns alle, nicht nur die Forschung und die Politik. Niemand kann die Folgen abschätzen und keiner weiss, wie es weitergeht. Ich bin froh, nicht entscheiden zu müssen.

Was hilft gegen das Alleinsein und die Einsamkeit?

Gezielt den Kontakt suchen, Freundschaften pflegen und vertiefen. Wer sich einsam fühlt, muss vielleicht auch über den eigenen Schatten springen und sich mitteilen. Man soll sagen, dass man jemanden vermisst oder froh darüber ist, dass er oder sie Teil seines Lebens ist. Man kann sich sozial engagieren: für Risikopatienten einkaufen, Kinder hüten oder Freiwilligenarbeit nachgehen. Wichtig ist es, sich zu fragen, was macht mich glücklich und was erfüllt mich mit Sinn? Ist es ein Buch zu lesen, den Garten zu pflegen oder zu malen, zu basteln oder zu stricken? Der Fantasie und Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Wieso sind Perspektiven in dieser Situation wichtig?

Sie geben uns Struktur und Halt. An Perspektiven können wir uns festklammern. Sie sind konkret und spenden uns Hoffnung. Die Massnahmen sind einfacher auszuhalten. Ungewissheit können wir nicht gut aushalten.

Verschwindet die Einsamkeit augenblicklich nach der Aufhebung des Lockdown?

Es ist nicht zu erwarten, dass die Einsamkeit einfach so verschwindet. Gefühle haben ihre eigene Dynamik. Sie sind nicht immer logisch und absehbar. Die Rückkehr zu alten Strukturen verläuft sicher nicht reibungslos. Spurlos geht die Zeit an niemandem vorbei.

Worauf freuen Sie sich am meisten nach der Krise?

Ich freue mich auf all die Kleinigkeiten im Alltag. Partner, Familie und Freunde wiederzusehen, sich spontan zu umarmen und zu kuscheln oder meinen Geburtstag mit meinen Liebsten zu feiern.