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Schweiz
Die Polarisierung nimmt zu nach dem hauchdünnen Nein zur Konzerninitiative (KVI). Die Bürgerlichen greifen die Hilfswerke an. Was passiert da gerade? Sechs Thesen von SP-Co-Präsident Cédric Wermuth.
Nach dem knappen Nein zur KVI sollen die Nichtregierungsorganisationen (NGO) abgestraft werden. Die Bürgerlichen fordern einen Bundesrats-Bericht zu den Staatsgeldern für die NGOs. Sie haben zudem die Geschäftsprüfungskommission eingeschaltet. Und die SVP stellt ein Politik-Verbot für NGOs in den Raum, die Steuergelder erhalten.
«Das ist eine Orbanisierung der Schweizer Politik», sagt Cédric Wermuth dazu, Co-Präsident der SP. Das sei «die Panikreaktion einer verunsicherten Elite», welche ihre Felle davonschwimmen sehe. Wermuths sechs Thesen rund um das hauchdünne Nein zur KVI:
Die Gegner konzentrierten sich für ihren Sieg bei der KVI-Abstimmung auf das Ständemehr. «Das ist ein historischer Bruch», sagt Wermuth. Die Wirtschaftselite habe damit zugegeben, dass sie nicht mehr in der Lage sei, die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen. Ein Beweis dafür, dass die Schweiz heute weit entfernt sei von der Schweiz vor zehn Jahren.
Wermuth spricht von einer «politischen Zeitenwende»: «Es gibt plötzlich ein Fenster für Ideen, die man 15 Jahre lang für chancenlos hielt.» Die Menschen wollten mehr Klimaschutz, mehr Geschlechtergerechtigkeit, mehr Würde für alle Menschen und mehr internationale Verantwortung der Schweiz.
2016 schrieb die NZZ vom «Durchmarsch der Zivilgesellschaft». Bei der Durchsetzungsinitiative der SVP machte sich die Zivilgesellschaft in der Schweiz erstmals deutlich bemerkbar. «Solange die Zivilgesellschaft nur die SVP in die Schranken wies, war das für die bürgerliche Elite in Ordnung», sagt Wermuth. «Jetzt richtet sie sich aber plötzlich gegen die grossen Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse und gegen die Interessen von Grosskonzernen und Grosskapital in der Schweiz.» Das gehe der bürgerlichen Elite zu weit: «Damit hat sie nicht gerechnet.»
Einen Vorgeschmack über die NGO als neuen Machtfaktor erhielt die Schweiz am 8. September. Trotz Coronakrise und Problemen beim Sammeln von Unterschriften, reichten Pro Natura, BirdLife Schweiz, Heimatschutz und Stiftung Landschaftsschutz die Biodiversitäts- und die Landschaftsinitiative ein - mit total 250'000 Unterschriften. Und am 29. November errangen 130 NGO und Hilfswerke das Volks-Ja bei der KVI.
«Hinter den NGO steht eine Zivilgesellschaft mit hunderttausenden von Freiwilligen und Spenderinnen und Spendern», sagt Wermuth. Die NGO seien hoch glaubwürdige Akteure. «Sie tun, was sie sagen – und dies aus tiefer Überzeugung. Die Bevölkerung hat grosses Vertrauen in sie.» Die NGO hätten eine Alternative ins Spiel gebracht: Solidarität und internationale Gerechtigkeit statt nur Geld und Profit.
«Die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftsverbände ist massiv angeschlagen», sagt der Co-Präsident der SP. Hätte sich nicht Justizministerin Karin Keller-Sutter derart stark gegen die KVI engagiert, wäre es zu einem doppelten Ja gekommen.
Für Wermuth zeigt sich bei der SVP exemplarisch, wie weit sich die Wirtschaft von der Alltagsrealität entfernt habe. «Sie war einst die Partei des Gewerbes, der Bauern und des industriellen Patrons», sagt er. Heute seien Leute an der Spitze, «die ihr Vermögen geerbt haben, an Elite-Universitäten der USA studierten oder Banker sind».
Nach dem Nein zur KVI attackieren die Bürgerlichen die Hilfswerke und die NGO. «Das ist eine Panikreaktion einer Elite die realisiert, dass ihre Dominanz in der Wirtschaftspolitik eingebrochen ist», sagt Wermuth. «Das Volks-Ja zur KVI ist für sie ein absoluter Schock.» Mit den Angriffen versuchten die Bürgerlichen, die Zivilgesellschaft «mundtot zu machen».
Wermuth: «Das ist die Orbanisierung der Schweizer Politik.» Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban verfolge diese Strategie, welche die autoritäre Rechte überall anwende, wenn sie von der Zivilgesellschaft bedrängt werde. «Orban verteufelt die Zivilgesellschaft und unterstellt ihr unhehre Absichten.»
Die Idee der Politik erlebe ein Revival, sagt Wermuth. Eine ganze Generation sei neu politisiert worden. Sie glaube nicht an das jahrzehntelange Gerede, in der Politik lasse sich nichts erreichen. «Diese Generation will das Schicksal wieder in die eigenen Hände nehmen.» Für ihn bietet das grosse Chancen für die SP. «Denn demokratische Politik ist im Kern ein linkes Konzept. Es ist die Idee, gemeinsam und solidarisch unser Leben zu verbessern.»
Die Zeit sei reif für neue Ideen. Das ist der SP-Spitze klar geworden. Sie arbeitet an einer Initiative, die den Finanzplatz vollständig umgestalten will. Er soll sich künftig am Gemeinwohl ausrichten und nur noch Projekte finanzieren, die sozial und ökologisch nachhaltig sind. Gleichzeitig will die SP Kindertagesstätten zum Service public machen und bei der Altersvorsorge die erste Säule massiv stärken.