Deutschland sagt Ja: Der Bundestag legalisiert die «Ehe für alle». Der Geschäftsleiter der Schweizer Schwulenorganisation «Pink Cross» war für dieses historische Ereignis in Berlin. Er spricht über die Stimmung vor Ort, die Signalwirkung für die Schweiz und erklärt, weshalb er sich manchmal einen schwebenden pinken Punkt über allen LGBT-Menschen wünscht.
Bastian Baumann: Es herrscht eine Mischung aus grosser Freude verbunden mit Überraschung darüber, dass es jetzt am Schluss so schnell ging. Die grosse Koalition aus CDU und SPD hat die Behandlung des Geschäfts im Rechtsausschuss 30 Mal blockiert. Nun hat letzten Endes im Wahlkampf ein einziger Satz von Kanzlerin Merkel zur Aufhebung des Fraktionszwangs bei CDU/CSU ausgereicht, um der «Ehe für alle» den Weg zu ebnen.
Es war eine gewisse Anspannung zu spüren, weil die Sache bis heute Morgen noch nicht in trockenen Tüchern war. Bis am Schluss wurde mobilisiert. Die Berliner Benutzer von Grindr, einer Dating-App für Schwule, wurden beispielsweise dazu aufgerufen, den Abgeordneten von CDU und CSU zu schreiben, um für ein Ja zur «Ehe für alle» zu werben. Zusätzlich fand heute ab 8 Uhr früh eine grosse Demo vor dem Kanzleramt statt.
Jedes Land, das die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnet, sendet ein ermutigendes Signal. Der deutsche Entscheid ist eine Motivation für LGBT-Aktivisten auf der ganzen Welt. Ich denke aber persönlich, die Signalwirkung der Volksabstimmung im katholischen Irland vor zwei Jahren war noch grösser.
Das politische System der Schweiz ist grundsätzlich zäh. Das kann natürlich frustrierend sein. Gleichzeitig hat unser System den Vorteil, dass wir eine öffentliche Debatte zu den wichtigen Fragen haben. In Deutschland wurde die Ehe für alle jetzt im Zuge des Wahlkampfs sehr schnell aufgrund von Parteibeschlüssen durchgesetzt – mancher Konservativer fühlt sich überrumpelt, was nach jahrelanger Blockade aber irgendwie auch lächerlich erscheint.
In gesellschaftspolitischen Fragen ist die Schweizer Politik wahnsinnig langsam – man denke an das Frauenstimmrecht. Aus meiner mehrjährigen Erfahrung weiss ich, dass LGBT-Themen bei den Parlamentariern nicht unbedingt auf grosses Interesse stossen. Den meisten fehlt der persönliche Bezugspunkt. Es ist absurd: LGBT-Menschen machen zehn Prozent der Bevölkerung aus. In anderen Themenfeldern handelt die Politik viel schneller, obwohl viel weniger Menschen betroffen sind.
Ich spüre viel Unverständnis und Ungeduld. Der Entscheid über die erneute Fristverlängerung um zwei Jahre hat wenigen eingeleuchtet. Man muss an dieser Stelle der Community und ihren Familienangehörigen ein Kränzchen winden, wie viel Geduld und Durchhaltewillen sie trotz aller Rückschläge während Jahrzehnten gezeigt haben.
In der Diskussion wird immer wieder die staatlich anerkannte Zivilehe mit der religiösen Institution der Ehe vermischt. Deshalb wird in dieser Debatte immer mit Schlagworten wie Moral, Kultur oder Bewahrung von Traditionen argumentiert. Die Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften können von mir aus verheiraten und nicht verheiraten, wenn sie wollen. Aber als Bürgerinnen und Bürger mit allen Pflichten wollen wir Homosexuellen vom Staat auch alle Rechte erhalten – darunter eben die Möglichkeit einer Zivilehe.
Diese Antwort hat zwei Seiten: Es geht einerseits um die soziale Gleichstellung: Wie gehen wir als Gesellschaft mit LGBT-Leuten um? Ein homosexuelles Paar, das Händchen haltend durch die Strassen geht, wird auch in einer Stadt wie Zürich noch schräg angeschaut. Insofern wünsche ich mir, dass LGBT-Menschen in zehn Jahren viel unspannender geworden sind.
Hier geht es um die rechtliche Gleichstellung. Was Fragen wie den Zugang zum Adoptionsverfahren, den Schutz vor Diskriminierung und Hassverbrechen oder die rechtlichen Fortschritte bei Themen von Transmenschen anbelangt, hat die Schweiz noch einen riesigen Nachholbedarf. Im jährlichen Ranking zur rechtlichen Lage von LGBT-Menschen der «International Lesbian & Gay Association» (ILGA) landete die Schweiz auf Platz 26 von 49 europäischen Ländern. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
Manchmal wünsche ich mir, dass über jeder LGBT-Person einen Tag lang ein pinker Punkt schweben würde. Dann würde die Gesellschaft sehen, dass wir überall und völlig alltägliche Menschen sind: Man wird von bisexuellen Ärzten operiert, von lesbischen Pilotinnen geflogen und den Abfall entsorgt ein schwuler Müllmann. Vielleicht müsste die LGBT-Community in ihrer ganzen Vielfalt einmal auffallen, damit sie nachher als völlig selbstverständlich gelten kann.