Bundespräsident Alain Berset spricht über das Klima im Bundesrat, die Zukunft mit der EU und sagt, ob er vom geregelten Zugang zu Cannabis Gebrauch machen würde.
In den Tagen vor der Sommerpause muss alles noch erledigt werden. Kurz vor dem Besuch des iranischen Präsidenten Hassan Rohani informierte Bundespräsident Alain Berset am Montagmorgen über die Fairfood-Initiative. Zwei Tage lang hofierte er Rohani. Am Mittwoch stritt er im Bundesrat mehrere Stunden lang über Europa, um das weitere Vorgehen zu regeln. Tags darauf reiste er mit seinen Bundesratskollegen in den Kanton Freiburg, am Freitag endete das zweitägige Schulreisli.
Wegen seines vollen Terminkalenders interviewen wir Alain Berset in Lausanne. Er wirkt zwar nicht müde, er machte aber auch schon einen entspannteren Eindruck.
Alain Berset: Vor allem in Bern. Ich muss neben den präsidialen Aufgaben ein grosses Departement mit acht Ämtern führen. Das Volumen der zusätzlichen Aufgaben habe ich etwas unterschätzt. Aber ein Jahr lang lässt es sich bewältigen.
Überhaupt nicht. Ein Land wie die Schweiz braucht stabile Beziehungen und muss diese auch pflegen. Wir sind weder eine Supermacht wie die USA, noch gehören wir einer supranationalen Organisation wie der EU an. Deshalb sind bilaterale und multilaterale Beziehungen so wichtig. Deren Pflege ist besonders in diesem Jahr ein wichtiger Teil meiner Tätigkeit. Das vermindert mein Engagement in der Innenpolitik jedoch in keinster Weise.
Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Zugegeben. Aber es gehört zu unserer gutschweizerischen Tradition, dass wir miteinander reden und streiten. Besonders die Sozialpartner blicken auf eine erfolgreiche Geschichte und Zusammenarbeit zurück.
Warten wir mal ab und geben wir uns die nötige Zeit. Ich bin überzeugt, dass alle Kreise das Wohl der Bevölkerung vor Augen haben und sich nach Kräften um eine Lösung bemühen, mit der alle gut leben können.
Schwer zu sagen. Wir machen Fortschritte.
Ich gebe keine solche Schätzung ab. Nur so viel: Nach Jahren, da wegen der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative alles blockiert war, geht es weiter. Nun hat sich der Bundesrat mehrmals intensiv mit dem Verhandlungsmandat befasst und seine Position gegenüber der EU präzisiert. Von beiden Seiten kam neuer Schwung.
Nein. Wieso?
Der Bundesrat hat am Mittwoch erneut bestätigt, dass die roten Linien gelten. Der Schutz unserer Arbeits- und Anstellungsbedingungen ist für die Leute wichtig. Die Wirtschaft will auch keine Dumpingkonkurrenz.
Vor sieben Jahren wählte die Bundesversammlung den damals 39-jährigen Alain Berset in den Bundesrat. Der Freiburger legte eine steile politische Karriere hin: Nach zwei Jahren im Generalrat (dem Parlament) seiner Heimatgemeinde Belfaux (FR) wurde Berset 2003 mit 31 in den Ständerat gewählt – als jüngstes Mitglied. Fünf Jahre später war er Präsident der kleinen Kammer und 2011 Bundesrat.
Seit Anfang Jahr vertritt er als Bundespräsident offiziell die Regierung. Nebst dem Papst und dem iranischen Präsidenten Hassan Rohani empfing Berset bereits den deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier. Berset reiste bereits nach Bangladesch, Japan und Lettland. Zwar war ihm die Politik früh in die Wiege gelegt. Er entstammt einer SP-Familie, seine Mutter politisiert bis heute im Gemeindeparlament von Belfaux. Allerdings verriet Berset den «Freiburger Nachrichten» letzten Dezember, dass sein politischer Einstieg auf lokaler Ebene über den Sport erfolgte: über den Leichtathletik-Club Belfaux. Als Mittelstreckenläufer muss er zwar einen langen Atem haben. Er habe dabei auch gelernt, «einen Schritt nach dem anderen zu tun». Wenigstens für die reformscheue Gesundheitspolitik mag das helfen. Berset hat Politologie studiert und in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
Ja, auf persönlicher Ebene verstehen wir uns gut. Auf politischer Ebene gibt es immer wieder heftige Debatten. Das ist auch richtig so. Es muss diskutiert werden. Und wenn wir uns entschieden haben, dann tragen wir gemeinsam den Entscheid. Bundesräte sind keine Parteisoldaten, wir müssen auch keine bestimmten Interessen vertreten. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam unser Land zu regieren.
Natürlich verändert sich die Politik mit neuen Mitgliedern. Bundesräte sind keine Klone. Ignazio Cassis politisiert anders als Didier Burkhalter, bringt eigene Erfahrungen und Sensibilitäten mit.
Vielfalt generell ist wichtig für das Gremium, für die Gesellschaft allgemein. Es spielt eine Rolle, wie viele Frauen und Männer gewählt werden. Genauso wie es eine Rolle spielt, dass Deutschschweizer, Romands und Tessiner vertreten sind. Oder dass städtische und ländliche Bevölkerung eine Stimme haben.
Bereits heute schreibt die Verfassung eine ausgewogene Vertretung vor. Die Vielfalt des Landes soll sich in der Zusammensetzung des Bundesrats widerspiegeln. Ob es dazu eine Verfassungsänderung braucht, will ich nicht abschliessend beurteilen. Ich habe viel Vertrauen ins Parlament, dass es so gut wie möglich eine Balance findet.
Ach, Doris Leuthard ist immer noch da! Es ist müssig, dies heute zu diskutieren.
Die Legalisierung von Cannabis ist kein Thema. Es geht lediglich darum, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie sich ein geregelter Zugang zu Cannabis auswirkt. Und zwar auf individueller und gesellschaftlicher Ebene.
Rund 200'000 Personen konsumieren bei uns regelmässig Cannabis, obwohl das eigentlich verboten ist. Es gibt einen Schwarzmarkt und keine Konsumentensicherheit. Es drängt sich auf, sich mit dem Umgang mit Cannabis zu befassen. Zur zweiten Frage: Nein.
Die beiden Kammern waren sich nicht einig, weitere Vorstösse sind hängig. Zudem gibt es mehrere Städte, die gerne wissenschaftliche Studien machen möchten. Das ist Grund genug, eine strukturierte Debatte über diese Frage anzustossen. Damit können wir einen Experimentierartikel auf der Grundlage eines konkreten Vorschlages diskutieren.
Ein Kompromiss. Etwas überraschend zwar, aber verständlich bei zwei der- art wichtigen Vorlagen. Nun haben wir eine Lösung für die gescheiterte Steuerreform mit zusätzlichen Mitteln für die AHV.
Wenn wir dadurch eine Mehrheit für die Steuerreform schaffen, ist das gut. Auch für die AHV ist der Kompromiss positiv. Mit der Finanzspritze von 2 Milliarden Franken pro Jahr reduzieren wir die Hürde, die wir später bei der AHV21 für die Stabilisierung der AHV nehmen müssen. In den nächsten 12 Jahren brauchen wir insgesamt 53 Milliarden Franken für die AHV – nur für die AHV. Der Bundesrat schlägt auch strukturelle Anpassungen vor, wie die Erhöhung des Frauenrentenalters. Doch den Grossteil müssen wir mit zusätzlichen Mitteln finanzieren, wenn wir das Rentenniveau halten wollen.
Wenn wir die notwendigen Mehreinnahmen für die Stabilisierung der AHV bis 2030 über die Mehrwertsteuer finanzieren, müssen wir diese um 1,5 Prozent erhöhen. Alle Parteien sagen, das sei zu hoch. Wenn nun ein Teil des Geldes über den AHV-Steuer-Kompromiss hereinkommt, etwa über Lohnabgaben und Bundesbeiträge, wie es der Ständerat beschlossen hat, so müssen wir die Mehrwertsteuer für die AHV nur noch um 0,7 Prozent erhöhen.
Dieses Risiko ist sehr stark mit der direkten Demokratie verknüpft. Bei jedem Referendum, bei jeder Abstimmung nehmen wir eine Abwägung vor, weil es Aspekte gibt, die uns gefallen, und andere, die uns weniger gefallen. Deshalb finde ich hier die Diskussion über die Einheit der Materie etwas übertrieben. Wenn wir auf Gesetzesebene damit anfangen, Verknüpfungen zu verbieten, gibt es kaum noch Kompromisse und mehrheitsfähige Reformen.
Doch, vorgeschlagen wird eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen und eine Flexibilisierung beim Altersrücktritt. Übrigens habe ich bisher eher die Kritik gehört, dass der Horizont der vorangehenden Reform zu kurz war. Damals wollten wir die AHV ebenfalls bis 2030 stabilisieren. Jetzt sollen wir noch einen Schritt zurückgehen?
Ja, auch. Aber auch der Zeithorizont war eine zentrale Kritik, zwölf Jahre seien nicht genug. Jetzt sind wir bei zehn Jahren. So schaffen wir eine stabile Situation und Zeit, um über eine nächste Reform zu diskutieren. Wer keine pragmatischen Reformschritte will, sollte ehrlich sein und jetzt sagen: Wir wollen das Rentenalter für alle auf mindestens 67 erhöhen.
Die Diskussion wird nicht ehrlich geführt. Persönlich finde ich es abenteuerlich, das Rentenalter allgemein erhöhen zu wollen, nachdem wir bereits zwei Mal mit dem Rentenalter 65 für Frauen gescheitert sind. Und älte- re Beschäftigte Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben.
Da müssen Sie meine Partei fragen. Ich bin nicht einverstanden mit der Aussage.
Doch. Bei der Qualitätsvorlage geht es vorwärts. Der Nationalrat hat die Vorlage schon behandelt, nun ist der Ständerat am Zug. Aber es braucht Zeit.
Natürlich hätte ich es lieber, wenn es schneller ginge. Aber dass es eine Bewegung in die richtige Richtung gibt, ist schon gut.
Der letzte Eingriff in den Ärztetarif Tarmed müsste eine Wirkung erzielen, da die Abrechnungsregeln und damit die Kontrollmöglichkeiten gestärkt wurden. Klar ist: Wenn wir die falschen Anreize ausmerzen, dann können wir Kosten sparen. Beim ersten Eingriff klappte dies zu wenig, da rechneten die Ärzte wegen Einnahmeausfällen zusätzliche Leistungen ab.
Sie sagen es, der Tarif ist heute veraltet. Alle sind sich da einig. Ich hoffe, dass ein neuer Tarif zustande kommt. Wir haben lange auf eine Revision gewartet.
Ich werde das immer wieder gefragt. Und offenbar war es eine Überraschung für viele, dass ich geblieben bin. Aber mir gefällt die Arbeit hier. Es sind sehr spannende Dossiers. Umfragen zeigen, dass Gesundheit und Altersvorsorge jene Themen sind, welche die Menschen am meisten beschäftigen. Das macht die Arbeit besonders bereichernd und spornt an, auch wenn es ab und zu sehr schwierig ist.