Früher waren die Strassen noch nicht geteert. Im Winter Schlammlöcher. Die Stadtbummlerin erinnert alle dran, die sich über die Baustellen aufregen.
Immer, wenn ich in den letzten Wochen die Centralstrasse hochgefahren bin, habe ich mich kurz über die Absperrung und die Autos am Strassenrand gewundert. Dann erinnerte ich mich wieder an das Drive-In-Impfen und nickte vor mich hin. Ah ja, genau. Während es mir heute zu denken gibt, dass ich so etwas immer wieder vergessen konnte, erstaunt es mich fast noch mehr, dass mir die Strassenabsperrung überhaupt aufgefallen ist. Irgendwo wird in Grenchen immer glochet, und falls ich jemals durch die Stadt fahre und nirgends ein Loch im Asphalt sehe, weiss ich, dass ein Putsch stattgefunden hat und eine Guerillatruppe die Macht übernommen hat.
Die grösste aktuelle Baustelle in meiner Nähe ist allerdings selbstverschuldet; sie befindet sich neben unserem Haus und macht mein Einsiedlerdaheim zu einem Brennpunkt der Strasse. Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Umbau ein sozial so interessantes Ereignis ist, aber es ist durchaus sympathisch, wenn Passanten anmerken, wie schön wir das gemacht haben. Ausserdem ist es eine gefreute Sache, den Baufortschritt zu beobachten: Jetzt können wir sogar unsere Autos abstellen. Und auch sonst darf ich nicht klagen: Wenn ich aus dem Gangfenster im ersten Stock Richtung Dählenstrasse sehe, erstreckt sich vor meinen Augen ein jungfräuliches Stück Asphalt. Was für ein Anblick!
Sowieso beschleicht mich, während ich in typischer Grenchner Art herumnörgle, ein vages Schuldgefühl. In meinem Kopf höre ich Generationen von frühen Grenchnern anmerken, dass ich gefälligst dankbar sein soll. SIE hätten keine geschotterten Strassen gehabt, und nach Regenwochen, wie wir sie gerade hatten, mussten sie in knietiefem Schlamm vom Bahnhof Süd ins Dorf waten.
Das sind Probleme! Und erst die Gesundheit: Wir klagen wegen Corona, während die Menschen vor 150 Jahren kaum eine Chance gegen all die weitgehend unentdeckten Bakterien und Viren hatten und Ausbrüche von Cholera, Pocken oder Typhus Angst und Schrecken verursachten. Wackere Ärzte brauchte es da! Wie wacker, habe ich letztens von unserem «Hüter der Vergangenheit» Marco Kropf erfahren: Ein Grenchner Arzt hat einst nachts heimlich reformierte Lengnauer behandelt, die sich durch den Eichholzwald nach Grenchen in seine Praxis schlichen…!
Verrückte Geschichten, die wir uns heute kaum vorstellen können. Umso wichtiger, dass sich Grenchen bemüht, uns die Vergangenheit erfahrbar zu machen. Heute zum Beispiel auf den Spuren eines solchen Mediziners: Mit einer Morgenlesung im Parktheater zu Ehren des 200. Geburtstags des «Grossätti us em Leberberg», Arzt und Volksdichter Franz Josef Schild, und einer Nachmittagsführung zu wichtigen Stätten seines Lebens und Wirkens. Chunnsch au?