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«Unsere» Quarantäne in Cartagena war hart. Fast sechs Monate dauerte sie – die längste weltweit. Eingesperrt im eigenen Daheim, einkaufen nur alle 10 Tage, keine Spaziergänge, kein Kitesurfen, die Kinder durften zwei Monate lang gar nicht raus. Ein Albtraum im Paradies.
Wenn ich das Foto von diesem Brownie anschaue, den wir in der Quarantäne gebacken haben, wird mir etwas übel. Obwohl der Brownie lecker aussieht. Aber wir haben gefühlte 100 Brownies und Ähnliches gebacken. Damit die Zeit vorbeigeht. Damit meine Grosse beschäftigt ist. Damit mein Mann was Süsses zum Geburtstag hat. Oder ich. Jetzt hinterlässt das Bild nur noch Beklemmnis. Als würde dir jemand von innen das Herz zusammendrücken.
Am 21. März sperren sie uns zu Hause ein. Alle. Vater, Mutter, Kinder. Nur Hunde dürfen raus. Ich überlege mir kurz, einen zu kaufen. Aber es heisst, die Quarantäne daure nur zwei Wochen.
Noch dürfen wir Einkaufen gehen. Das mache ich nun täglich. Um 5 Uhr aufstehen, Zeit mit dem Baby, um 8 Uhr virtueller Unterricht für die Grosse, nachmittags basteln, irgendetwas einkaufen gehen, backen, malen, iPad schauen.
Bald die erste Hiobsbotschaft: Die Quarantäne dauert nun bis Ende April. Und der Bürgermeister von Cartagena haut noch einen obendrauf: Jetzt zählt «Pico y cedula», das heisst, du darfst jetzt nur noch in den Supermarkt, wenn die letzte Nummer deiner ID dran ist. Meine ist die 4, also darf ich am Dienstag raus und dann rund eine Woche später wieder. Nichts von Sport an der frischen Luft, nichts von den Kindern, die eingesperrt sind. Nichts von Spazieren. Auch den Pool des Gebäudes darf man nicht mehr nutzen, alles zu. «Quedate en casa» – «Bleib zu Hause.» Ich kann es nicht mehr hören.
Ungläubig starre ich auf den Fernseher. Wut kommt in mir hoch, wir haben doch kaum Fälle und nur eine Handvoll Covid-Tote im ganzen Land. Und gleich so Zumachen?
Manchmal schleiche ich mich raus. Gehe an den Strand joggen, ganz nah am Wasser, damit mich von der Strasse aus niemand sieht. Die Polizei ist überall und «Ausbrecher» werden gebüsst, im Wiederholungsfall droht Gefängnis. Aber man kann sie schmieren, die Bullen, meistens zumindest, deshalb habe ich immer ein «Nötli» dabei. Aber das ungute Gefühl, erwischt zu werden, joggt mit.
Wenn «mein Tag» dran ist, packe ich meine Familie ins Auto, gut versteckt in den Rückbänken, und fahre zu meiner Kiteschule. Etwas baden und kiten und schon geht es mir wieder gut.
An diesem einen Tag allerdings – ich bin weit im Meer draussen am Kiten – kommt die Polizei, ganz furios und will mich büssen. Sie werden aber des Wartens müde und fahren weg und als ich an den Strand komme, rennt mein Mann auf mich zu, wir packen in Windeseile alles zusammen und machen uns aus dem Staub. Damit endet mein einziger Lichtblick in diesem trüben Quarantäne-Wischiwaschi.
Es ist traurig, alles. Wir haben einen Hometrainer gekauft, aber je länger, je einsamer steht der da, die Motivation wird jeden Tag weniger. Und alle zwei Wochen das «Blabla» des Präsidenten, wie gut wir es machen und wie wichtig es sei, zu Hause zu bleiben, und die Quarantäne werde nochmals um zwei Wochen verlängert. Die Zahlen steigen auf tiefem Niveau und bald dürfen wir nur noch alle 10 Tage Einkaufen gehen.
Wir schreiben einen Brief an den Bürgermeister und sammeln Unterschriften (virtuell natürlich), damit die Kinder wieder raus dürfen, aber es kommt keine Antwort. Irgendwann dürfen wir Erwachsenen raus, um uns zu bewegen. Aber erst nur an deinem «Tag», der von deiner ID-Nummer bestimmt wird. Also alle 10 Tage. Von 5 bis 7 Uhr morgens. Ein Witz.
An meinem Geburtstag bin ich melancholisch. Ich vermisse meine Freunde in der Schweiz und merke, wie wenig ich mit den Kolumbianern gemeinsam habe.
Meine Grosse hat auch die Krise, will all ihre Spielsachen weggeben. «Ich spiele ja eh nicht damit», sagt sie traurig.
Erst nach rund zwei Monaten dürfen die Kinder wieder mal an die Sonne.
Montags, mittwochs und freitags zwischen 15 Uhr und 17 Uhr, aber nur für 30 Minuten. Und nur die 6- bis 17-Jährigen, weil die Jüngeren noch nicht alle Impfungen haben. Zum Weinen. Aber immerhin. Wir gehen fast täglich raus, das Baby kommt mit.
Wenn’s sein muss, verstecken wir uns vor der Polizei oder lassen einen Zehner springen. Das ist illegal und wahrscheinlich erziehungstechnisch nicht so gut für mein Kind, aber in dem Moment ist mir das egal.
Was mir Auftrieb gibt in dieser Misere, ist der Papierkram, um auf einen humanitären Flug zu gelangen. Täglich checke ich Möglichkeiten ab und Ende April kann ich einen Flug nach England reservieren. Die vielen Fragezeichen ignoriere ich. Wie kommen wir von London in die Schweiz Anfang Mai? Kann das Baby ohne Pass fliegen? Darf mein kolumbianischer Partner in die Schweiz einreisen? Das geht dann schon irgendwie, denke ich, es herrscht Ausnahmezustand, es ist ein humanitärer Flug, da wird man Gnade vor Recht walten lassen.
Dem ist aber nicht so. Zusammen mit der netten Dame von der EDA-Hotline studieren wir die Ausnahmebewilligungen und finden heraus, dass er nicht einreisen darf, da wir nicht verheiratet sind. Die äusserste Notwendigkeit dürfte eventuell geltend gemacht werden, aber wer entscheidet das? Der Grenzwächter? Also mal fliegen und schauen ...? Ich würde das Risiko auf mich nehmen, aber als dann klar wird, dass mein Baby ohne Pass nicht reisen darf, gebe ich auf. Der Frust ist riesig. Und keine weiteren humanitären Flüge in Sicht.
Alle zwei Wochen hoffen wir also weiter auf ein Ende der Quarantäne – und dann wird sie nochmals um zwei Wochen verlängert, und nochmals, und nochmals.
Die Grosse hat null Bock mehr auf virtuellen Unterricht und zeigt depressive Zeichen. Schaut stundenlang fern, ist ohne Motivation. Und ich mag auch nicht mehr spielen, basteln oder Brownies machen.
Hin und wieder kommen mir die Tränen, im Bett, wenn niemand es sieht. Und ich versuche mir einzureden, wie gut wir es haben mit der grossen Wohnung, dem Baby, das uns auf Trab hält und dass wir doch genügend Geld zum Essen haben.
Die Rettung kommt in Form eines E-Mails von der Schweizer Botschaft, dass nochmals ein humanitärer Flug organisiert werde. Die Lebensgeister sind zurück. Den kolumbianischen Notfallpass fürs Baby hatten wir mittlerweile mit viel Glück organisieren können und die Einreisebewilligung für meinen Partner bekommen wir auch. Ein Minivan bringt uns nach Bogotá, 20 Stunden Fahrt, das Baby auf dem Schoss, der Hintern gefühllos und dazu eine Nackenstarre. In Bogotá können wir bei einer Freundin etwas ausruhen und auf der Schweizer Botschaft das Visum für Baby und Papa holen.
Dann geht es endlich tatsächlich los. Auf humanitären Flügen gibt’s weder Essen noch Decken oder Filme.
In Österreich verpassen wir den Flug in die Schweiz, also in ein Flughafenhotel und nochmals Sandwiches, weil alle Restaurants zu sind. Aber uns war alles egal, wir waren auf dem Weg in die Freiheit. Mit Maske und Abstand, aber frei.
Vor ihrer Auswanderung war die gebürtige Solothurnerin Christina Varveris unter anderem als Journalistin für diese Zeitung tätig.
Nach acht Jahren auf karibischem Wasser hat mich die Covid-Welle an den Jurasüdfuss zurückgespült.
Ich wollte Spanisch lernen und Kitesurfen und bin damals durch Zufall auf Cartagena, Kolumbien gestossen. Nach dem Sprachkurs wollte ich nicht mehr zurück. Ich half meinem damaligen Freund, seine Kiteschule aufzubauen, und endete als Geschäftspartnerin. Die private Beziehung war aber schwierig und so habe ich mich drei Jahre später von ihm gelöst und meine eigene Kiteschule ins Leben gerufen. «Pure Kitesurf» ist in Manzanillo del Mar, rund 20 Minuten vom historischen Zentrum von Cartagena entfernt.
Die letzten Jahre bestimmte der Wind mein Leben. Der bläst regelmässig von Dezember bis Ende April und etwas unregelmässiger von Juni bis August. Wir bieten einen Shuttle-Service an und bringen die vorwiegend ausländischen Gäste an «unseren» Strand, wo wir sie in den schönsten Sport der Welt einführen.
Seit Mitte Juni sind wir nun schon in der Schweiz. Ursprünglich mit dem Plan, wieder zurückzukehren. Mittlerweile hat sich das Leben dort weitgehend normalisiert, auch die Grenzen sind wieder offen. Bis sich der Tourismus erholt, wird es aber wahrscheinlich noch eine Weile dauern. Für uns lohnt es sich deshalb nicht, zurückzugehen. Meine Instruktoren betreuen die Schule vor Ort und ich manage von hier aus die wenigen Anfragen, die reinkommen.
Wir sind froh und dankbar, der Panikmache in Kolumbien entflohen zu sein und in der vergleichsweise doch sehr entspannten Schweiz leben zu dürfen. Ich freue mich für meine Grosse, die in die erste Klasse geht und vom tollen Schweizer Schulsystem profitiert. Trotz Corona kann man hier viel unternehmen und wir fühlen uns frei. Mein Mann lernt fleissig Deutsch und ich bin auf Stellensuche.
Auch die Kälte und der Nebel machen uns wenig aus, nach acht Jahren Dauerhitze sind wir aufgewärmt und freuen uns auf den Schnee.
Christina Varveris