Aus Thaler Sicht
Der gesunde Menschenverstand

Sammy Deichmann, Künstler aus Aedermannsdorf
Sammy Deichmann, Künstler aus Aedermannsdorf
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Impfzentrum Trimbach.

Impfzentrum Trimbach.

Bruno Kissling

Selbstredend habe auch ich zum Impfdeutungskampf eine Meinung. Bei Themen wie diesem, bei dem praktisch jeder ein Experte ist, versuche ich mich aber üblicherweise rauszuhalten. Debattiert wird ja auch nicht wirklich. Jeder meint zu wissen. Keiner kann wirklich wissen. Im Stammtischmodus gibt es keine neuen Erkenntnisse, aber viele Verlierer.

Mein Thema heute ist der «gesunde Menschenverstand», mit dem gerne jede Seite mal argumentiert. Alleine, dass es beide Seiten tun, schliesst aus, dass es den «gesunden Menschenverstand» überhaupt geben kann. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) war der Meinung, dass der gesunde Menschenverstand der normale, klare, mithin einfache, erfahrungsbezogene und allgemeine Verstand des Menschen ist, oder anders ausgedrückt, der durchschnittliche Verstand eines gesunden Menschen. Nach dieser Definition müsste im eingangs erwähnten Kampf um die Meinungsvorherrschaft in der Impfsache mindestens eine Seite nicht über die erforderliche Gesundheit verfügen. Sorry, das war jetzt einer dieser Seitenhiebe, die nicht wirklich zur Klärung des Sachverhalts beitragen, aber rausnehmen mag ich den Satz dann doch nicht.

Kein Geringerer als Albert Einstein himself hatte eine ganz andere Meinung zum gesunden Menschverstand. Einstein hat mal gesagt, dass der gesunde Menschenverstand keine nützliche Einrichtung sei. Der gesunde Menschenverstand, der es ihm und seinen Artgenossen erlaube, sicher durch den Tag zu kommen, sei eine Ansammlung von Vorurteilen, die sich in den Köpfen der Menschen ablagern, bevor sie 18 Jahre alt werden. Es ist das Denken, wie es sich entwickelt und herausbildet, wenn einem nichts einfällt und nichts dazwischenkommt. Der gesunde Menschenverstand ist das biologische Brett vor dem Kopf, das den Durchblick zur wissenschaftlichen Einsicht verhindern kann.

Harte Worte. Einstein hat offenbar nicht sehr viel auf seine Zeitgenossen gegeben. Aber lassen wir Einstein mal Einstein und Kant Kant sein. Hier und heute haben wir ein massives Verständnisproblem und die Fronten in der Impffrage sind so verhärtet, dass unsere Toleranz für die jeweils andere Seite auf eine harte Probe gestellt wird. Und das ist wirklich vorsichtig formuliert.

Ich weiss nicht, ob Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, schon aufgefallen ist, dass ich bislang noch nicht erwähnt habe, auf welcher Seite ich in der Impffrage stehe. Das spielt auch keine Rolle. Meine Haltung ist, wie die aller anderen auch, aus Medienmeldungen und den resultierenden Schlussfolgerungen genährt. Ob meine Informationen die richtigen sind, kann ich nicht überprüfen. Einzig, welche Medien ich konsumiere und wem ich meinen Glauben schenke, bestimmt meine Position.

Eine Glaubensfrage kann nicht mit Verstand gelöst werden, denn glauben ist nicht wissen. Der gesunde Menschenverstand kann uns hier demnach nicht zur Seite stehen. Schon gar nicht in Zeiten, in denen das Verbreiten von Fakes bis in die hohe Politik salonfähig zu sein scheint. Ich frage mich, wie all diese absurden Erklärungen rund ums Impfen in die Köpfe gelangen konnten und möchte Ihnen an dieser Stelle ein von mir gerne und oft wiederholtes Zitat von Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, französischer Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert, zum Besten geben: «Tritt eine Idee in einen hohlen Kopf, so füllt sie ihn völlig aus – weil da keine ist, die ihr den Rang streitig machen könnte.»

Wir sollten versuchen nochmals nachzudenken, bevor wir wieder miteinander sprechen.

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