Kunstturn-EM
Giulia Steingruber verzichtet wegen einer Verletzung auf die Königsdisziplin – Es ist ihr nächster Zug im Sommer des Pokerns

Wegen muskulärer Probleme am Oberschenkel verzichtet Giulia Steingruber auf den Mehrkampffinal bei den Europameisterschaften in Basel. Am Samstag und Sonntag will sie um die Medaillen turnen.

Simon Häring
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Schon in der Qualifikation kämpfte Giulia Steingruber mit muskulären Beschwerden am linken Oberschenkel.

Schon in der Qualifikation kämpfte Giulia Steingruber mit muskulären Beschwerden am linken Oberschenkel.

Alexandra Wey / KEYSTONE

Schon am Mittwoch in der Qualifikation war Giulia Steingruber mit einer Bandage am linken Oberschenkel angetreten. Eine Vorsichtsmassnahme, wie die 27-Jährige sagte. Dennoch verzichtete sie nun auf eine Teilnahme am Mehrkampffinal bei den Kunstturn-Europameisterschaften in Basel, wo die Siegerin von 2015 wohl kaum um die Medaillen mitgeturnt hätte.

Stattdessen spielt sie die nächste Karte im Frühsommer des Pokerns. Am Samstag am Sprung und am Sonntag am Boden rechnet sie sich Chancen auf den Sieg aus. An ihren Paradegeräten turnte Steingruber gewohnt souverän, als Dritte im Sprung und als Fünfte am Boden erreichte sie die Finals. Am Sprung konnte sie sogar taktieren und den Jurtschenko nur mit einfacher statt doppelter Schraube ausführen. Am Sonntag wird sie die Doppelschraube zeigen. In der Mehrkampf-Rangliste belegte sie trotz einem Sturz am Schwebebalken den beachtlichen zehnten Rang.

Am Boden und im Sprung wird Steingruber um die Medaillen turnen können, im Mehrkampf wäre das schwieriger geworden.

Am Boden und im Sprung wird Steingruber um die Medaillen turnen können, im Mehrkampf wäre das schwieriger geworden.

Alexandra Wey / KEYSTONE

Sie ist zwar bemüht, die sportliche Bedeutung der Europameisterschaften, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, nicht kleinzureden, doch sie macht auch kein Geheimnis daraus, dass die Titelkämpfe für sie nicht oberste Priorität geniessen. Die oberste Devise: Keine Verletzungen riskieren, ein sauberes Programm turnen. Ihr Palmarès ist längst komplett: 5 Mal Gold, 1 Mal Silber, 3 Mal Bronze. Kommt in Basel weiteres Edelmetall hinzu, wäre das eine beachtliche Leistung, gemessen an ihrem Palmarès aber nicht mehr als eine Randnotiz. Schon vor den Titelkämpfen sagte sie, nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch sie erwarte Medaillen von sich.

Aber auf der grössten Bühne: bei den Olympischen Spielen.

Längst ist Giulia Steingruber die erfolgreichste Schweizer Turnerin der Geschichte, 2016 in Rio de Janeiro gewann sie mit Bronze im Sprung als erste Schweizerin eine Olympia-Medaille. Das ist der Massstab, an dem sie seither gemessen wird. Und der Massstab, an dem sie sich selber misst. Im Wissen darum, dass die Olympischen Spiele in Tokio in Anbetracht ihres für Turnerinnen fortgeschrittenen Alters «wahrscheinlich die letzten» sein werden, wie sie im Gespräch mit dieser Zeitung bestätigte.

Wie gravierend die Blessur ist, ist nicht bekannt. Am Mittwoch sagte Steingruber, die Bandage sei eine Vorsichtsmassnahme.

Wie gravierend die Blessur ist, ist nicht bekannt. Am Mittwoch sagte Steingruber, die Bandage sei eine Vorsichtsmassnahme.

Georgios Kefalas / KEYSTONE

Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro war Steingruber auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft. Doch sie bildeten auch einen Wendepunkt. Im Bodenfinal erlitt sie eine Fussverletzung, die eine Operation erforderte. Die letzten Jahre waren nicht nur von Verletzungen geprägt, sondern auch von persönlichen Schicksalsschlägen. Sie kämpfte mit Motivationsproblemen, nahm sich eine Auszeit und reiste mit einer Freundin durch Australien.

Kaum war Steingruber in die Schweiz zurückgekehrt, verstarb ihre schwer behinderte Schwester Désirée.

Im Oktober 2017 meldete sich Steingruber zurück im Kreis der Weltbesten. Sie wurde WM-Dritte am Sprung und zeigte eine Bodenübung, die eine musikalische und choreografische Hommage an die Schwester war. Doch im Jahr darauf riss sie sich das Kreuzband im linken Knie. Wenige Tage zuvor hatte sie einen Hexenschuss erlitten, beim Aufwärmen zu einem Dreiländerkampf, bei dem sie sich das Kreuzband riss, war der Barren zusammengekracht, während sie daran turnte. Sie bereitete sich damals parallel auf die Matura vor, und sagte, sie habe sich zu viel aufgebürdet. Nun sagt sie: «Ich musste damals lernen, auf meinen Körper zu hören.»

Olympia-Medaille als grosses Ziel

Die schmerzhafte Lektion von damals ist die Erkenntnis von heute. Sie hat dazu geführt, dass Steingruber, die von sich sagt, ihre grösste Schwäche sei die Ungeduld, kein Risiko eingeht in einem Wettkampf, in dem es für sie - knapp drei Monate vor den Olympischen Spielen in Tokio - wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt. Das wird sich am Wochenende auch in den Gerätefinals zeigen, wo die 27-Jährige auf ein bewährtes Programm setzt. Auch das ist ein Poker. Denn es ist bekannt, dass Steingruber vor den Olympischen Spielen mehr als nur ein Ass im Ärmel hat.

2016 bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro mit Bronze im Sprung als erste Schweizer Turnerin eine Olympia-Medaille.

2016 bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro mit Bronze im Sprung als erste Schweizer Turnerin eine Olympia-Medaille.

Peter Klaunzer / KEYSTONE

Die Übung am Barren hat Steingruber umgestellt, und am Balken hat sie zwei neue Elemente einstudiert. Und sie feilt an zwei neuen Sprüngen: dem Yurchenko mit Doppelsalto rückwärts gehockt, den noch nie eine Frau gestanden hat, und der nach ihr benannt würde. Und am Yurchenko mit halber Drehung und abschliessendem Salto vorwärts gestreckt mit anderthalb Drehungen. Sie sagt: «Nach der EM habe ich noch gut zwei Monate Zeit, Vollgas zu geben. Ich weiss, es ist möglich, diese Elemente bis zu den Olympischen Spielen zu integrieren und zu stabilisieren.»

Die Olympischen Spiele in Tokio - sie werden wohl der letzte Höhepunkt und vielleicht auch der Endpunkt in der Karriere von Giulia Steingruber. Die Europameisterschaften sind nur ein Puzzlestein auf dem Weg dorthin. Auch dann, wenn diese am Wochenende mit Medaillen gekrönt werden.