Die Schiedsrichter sind die Prügelknaben des Fussballs. Dabei geht vergessen, dass ohne sie nicht gespielt werden kann. Ein Gespräch mit mit den Unparteiischen Patrick Graf und Sandro Schärer.
Sie gehören zwei verschiedenen Generationen von Schiedsrichtern an: Der Schwyzer Sandro Schärer (28) und der Berner Patrick Graf (44). Ersterer ist ausgebildeter Gymnasiallehrer, Fifa-Schiedsrichter und hierzulande der Beste seines Fachs. Er kann von seiner Tätigkeit beim Verband leben. Letzterer dagegen war als Filialleiter einer Bank noch voll berufstätig, als er in der Super League pfiff. Heute leitet er die Geschäftsstelle der SFV-Schiedsrichterkommission.
Patrick Graf: Urs Meier und Massimo Busacca waren Ausnahmeerscheinungen. Ich bin aber von den Fähigkeiten unserer Leute total überzeugt. Wir arbeiten alle intensiv darauf hin, dass sie bereit sind, wenn sie ihre Chance bekommen. Unser Ziel ist die WM 2022.
Sandro Schärer: Ich denke kurzfristig. Ich konzentriere mich auf das, was ich beeinflussen kann. Und das sind meine Leistungen. Darum liegt mein Fokus vor allem auf der Arbeit in den Trainings und natürlich in den Spielen.
Schärer: Oberstes Kriterium beim Handspiel ist noch immer die Absicht. In den wenigsten Fällen ist diese aber vorhanden. Danach kommen die Fragen: War es eine natürliche Bewegung? Konnte der Spieler überhaupt noch reagieren? Das kann natürlich Situationen oder Szenen geben, die innert sehr kurzer Zeit bestimmt beurteilt werden müssen. Wenn ich im Fernsehen eine solche Szene in der Super-Zeitlupe sehe, erkenne ich die oft kaum wieder. Die ganze Dynamik einer derartigen Aktion fällt quasi weg. Daraus entsteht meist ein total anderes Bild.
Graf: Sie sprechen vom Spiel GC gegen Lausanne. Ja, wenn man die TV-Bilder anschaut, dann war es ein Penalty.
Graf: Früher gab es weniger Kamerapositionen, und auf dieser Basis wurde ein Spiel fürs Fernsehen dokumentiert. Heute gibt es Kamerawinkel für Situationen, die das menschliche Auge gar nicht erfassen kann. Fehler gehören zum immer schneller und intensiver werdenden Fussball. Das Aufdecken durch Hightech-Kameras eben auch.
Graf: Ich bin total dafür. Wenn man dem Schiedsrichter Unterstützung bieten kann: Was will man mehr?
Schärer: Ich durfte bei einem Test dabei sein. Es gibt nur vier spezifische Fälle, bei denen der Videoassistent eingreifen kann: Bei einer direkten roten Karte, einer Spielerverwechslung, einem Penalty und bei Toren. Es geht nicht um gelbe Karten, Eckbälle oder Fouls im Mittelfeld.
Schärer: Auf zwei Arten. Wenn der Schiedsrichter einen Zweifel hat, dann fragt er den Videoassistenten im Übertragungswagen. Oder: Dieser hat etwas gesehen, was dem Schiedsrichter entgangen ist, und meldet es ihm. Wenn der Schiedsrichter will, kann er eine Szene auch selber am Spielfeldrand auf einem Bildschirm noch einmal anschauen. Der Schiedsrichter bleibt der Captain auf dem Boot.
Graf: Die Idee ist, dass es aktive oder ehemalige Schiedsrichter sind. Solche, die nahe an der Materie und mit den Entwicklungen und der Dynamik des Fussballs vertraut sind. Wichtig ist, dass wir nun mal sehen, wie es in anderen Ländern anläuft. Wir sind zu klein, um diesbezüglich eine grosse Vorreiter-Rolle zu übernehmen.
Graf: Der Videobeweis wird auch in der Schweiz kommen. Im Herbst reist eine Delegation nach Deutschland, um live dabei zu sein, wenn in der Bundesliga diese Technik zur Anwendung kommt. Ich hoffe, dass der Videoentscheid spätestens in der Saison 2019/20 bei uns eingeführt wird. Bis dann dürften die Fragen bezüglich Finanzierung und Manpower geklärt sein.
Schärer: Wenn ich sehe, wo die Schiedsrichter vor zehn Jahren standen, kann ich nur eine grosse Verbesserung feststellen. Ich selber bin derzeit zu 90 Prozent vom Schweizerischen Fussballverband angestellt. 50 Prozent davon betreffen die Referee Academy.
Schärer: Ich leite dieses von der Uefa finanziell unterstützte Förderprogramm für Schiedsrichtertalente. Derzeit sind es rund siebzig. Der Lehrgang dauert drei Jahre und wurde vor vier Jahren eingeführt. Im ersten Jahr leiten diese Talente während eines Jahres Spiele auf Stufe U18. Dann kommen sie in die 2. Liga interregional und schliesslich in die 1. Liga Classic. Sie werden von uns dabei eng begleitet.
Graf: Um die Fortschritte im Schiedsrichterwesen zu veranschaulichen: Ich selber pfiff während fünf Jahren in der Super League, arbeitete als Familienvater mit zwei Kindern zu hundert Prozent als Filialleiter einer Bank. Ich war ein Auslaufmodell.
Schärer: Es ist wichtig, die Rahmenbedingungen für Schiedsrichter laufend zu verbessern. Ich leitete kürzlich ein Abendspiel unter der Woche in der Romandie. Mein Assistent kam um halb fünf Uhr morgens nach Hause. Und musste um sieben im Büro sein.
Graf: Wir sind dabei, die nötigen Optimierungen vorzunehmen. Es ist das Ziel, ab 2018 die Topschiedsrichter mit Verträgen auszustatten, die ihnen ein geregeltes Einkommen aus dem Bereich Fussball garantieren. In der Schweiz ist es aber unheimlich wichtig, dass jeder noch einen Fuss in seinem Job hat. Die Karriere kann von einem Tag auf den andern abrupt abbrechen wegen einer Verletzung: was dann? Zurück in den erlernten Beruf, wo man feststellen muss, dass ein paar schnelle Züge abgefahren sind? Darum plädiere ich für Semiprofessionalität in der Schweiz. Den Profi braucht es nicht.
Schärer: Wenn Schweizer wieder regelmässig in der Champions League pfeifen sollten, werden 50-Prozent-Pensen möglicherweise nicht reichen. Auf dieser Stufe geht es Richtung Vollprofi. Da müssen, können und werden wir Lösungen erarbeiten.
Graf: Wenn ich mit früher vergleiche, haben wir in den letzten Jahren einige Meilensteile gesetzt. Wir bieten viel mehr als diese 1050 Franken. Ein Beispiel: Als ich als aktiver Schiedsrichter einst in die Vorbereitung nach Gran Canaria ging, musste ich das Trainingslager und die Kleidung selber berappen. Heute wird alles bezahlt.
Schärer: Im Schnitt 11,5 Kilometer. Die physische Beanspruchung ist plus/minus identisch mit der eines Spielers.
Schärer: Das beschäftigt mich, natürlich. Nächte mit wenig oder gar ohne Schlaf gibt es aber nach jedem Spiel. Der Kopf stellt nicht ab, man ist noch voller Adrenalin.
Schärer: Ich bin sehr selbstkritisch und wohl auch darum keiner, der gross Medienberichte liest. Wichtig ist mir unsere intensive Aufarbeitung. Wir haben bei jedem Spiel einen Coach dabei und gleichzeitig sitzt einer zu Hause am TV, der die wichtigsten Punkte protokolliert und gleich potenzielle Ausbildungssequenzen herauszieht. Am nächsten Tag habe ich auf der Schiedsrichter-Internetplattform die zehn wichtigsten in meinem Profil. Diese werden von verschiedenen Leuten kommentiert. Das sind für mich die relevanten Bewertungskriterien.
Schärer: Ich finde nicht, dass die Schiedsrichter und der Chef der Spitzenschiedsrichter sich vor den Medien verstecken. Sie stehen auch zu Fehlern, wenn ihnen nachweislich solche unterlaufen sind. Aber es gibt eben auch Situationen nach Spielen, in denen Medienschaffende unter hohem Zeitdruck stehen und Zitate brauchen für ihre Berichte. Dafür habe ich absolutes Verständnis. Im gleichen Atemzug plädiere ich aber auch für Verständnis, wenn die Situation eintrifft, dass ein allenfalls gefragter Schiedsrichter einfach nicht innerhalb eines gewünschten Zeitrahmens bereit ist für Interviews.