Vor den Häfen an der US-Westküste stauen sich die Containerschiffe. In den Geschäften stöhnen Konsumentinnen und Konsumenten über leere Regale und lange Lieferfristen. Was steckt hinter den Engpässen in den USA – und wie ist die Schweiz betroffen?
Eigentlich hat Mario Cordero allen Grund, zufrieden sein. Der Port of Long Beach an der amerikanischen Westküste, den Cordero seit 2017 dirigiert, brummt. Von Januar bis August des laufenden Jahres wurden im zweitgrössten Seehafen des Landes 6,4 Millionen Standardcontainer abgewickelt, fast 30 Prozent mehr als 2020. Dabei war das vergangene Jahr doch bereits «ein Rekordjahr», wie Cordero kürzlich im Gespräch mit Auslandsjournalisten betonte.
Mit dem Erfolg des Hafens, der zusammen mit dem benachbarten Port of Los Angeles einen riesigen Komplex bildet, kamen aber auch die Probleme. So fehlt Cordero schlicht die Kapazität, um die Schiffe, die im Hafen andocken wollen, zeitnah zu löschen – obwohl der Hafendirektor doch im vergangenen Monat den 24-Stunden-Betrieb einführte, um der Containerflut Herr zu werden.
Auch liegen in der San Pedro Bay vor der Millionen-Metropole Los Angeles aktuell gegen 90 Schiffe vor Anker, eine ausserordentlich hohe Zahl. Diese Schiffe, beladen mit Möbeln, Autoersatzteilen, Kleidern, Fernsehgeräten oder Spielzeugen aus China, Japan und Vietnam, müssen buchstäblich tagelang auf einen freien Platz im Hafen warten. «Wir tun alles, was wir können», sagte Hafendirektor Cordero, aber, «ganz ehrlich», kurzfristig liessen sich die Lieferketten-Probleme nicht lösen, mit denen sich die Häfen an der amerikanischen Westküste konfrontiert sähen. Er sagt: «Wir befinden uns in einer nationalen Krise.»
Dies hat Folgen für die amerikanischen Konsumentinnen und Konsumenten. Die Wartezeit für einen Neuwagen? Mehrere Monate, weil die amerikanische Autoindustrie besonders stark vom weltweiten Chipmangel betroffen ist. Im September wurden landesweit nur 12,6 Millionen Autos verkauft, fast 5 Millionen weniger als im Vergleichsmonat 2019. Die Verfügbarkeit neuer Fitnesskleider, «Made in Vietnam»? Geringer als noch im vergangenen Jahr, wie die Lululemon-Finanzchefin Meghan Frank kürzlich im Gespräch mit Analysten einräumte. Ihr Unternehmen setze deshalb vermehrt auf den teureren Gütertransport durch die Luft, kündigte Frank an.
Und wie gross ist die Chance, jetzt noch ein originelles Kostüm für Halloween zu erstehen? Klein. Der Branchenverband National Retail Federation schätzt, dass die US-Bevölkerung in diesem Jahr für den amerikanischsten aller amerikanischen Volksbräuche mehr als 10 Milliarden Dollar ausgeben werde, für Kostüme, Dekorationen und Süssigkeiten; und die leeren Regale und Kleiderständer in den Halloween-Spezialgeschäften deuten darauf hin, dass der Grossteil dieser Ausgaben bereits getätigt wurde.
Weil sich in den USA im November und Dezember ein Festtag an den anderen reiht – auf das Erntedankfest Thanksgiving am 25. November folgen das jüdische Chanukka-Fest vom 28. November bis am 6. Dezember, die Weihnachtsfeiertage und Silvester – warnen Logistik-Fachleute bereits vor einem tristen Jahresende.
Gutmeinende Stimmen jedenfalls sagen, dass nun beste Zeit sei, sich Gedanken über Gaben und Dekorationen zu machen, angesichts der Lieferkette-Probleme und der anhaltend hohen Teuerung. In diesen Chor stimmte kürzlich auch Joe Biden ein: «Sie stellen sich vielleicht die Frage, ob die Geschenke, die sie kaufen wollen, rechtzeitig ankommen», sagte der demokratische Präsident während einer Rede im Weissen Haus.
Auch Schweizer Konsumenten sind von Lieferengpässen betroffen – etwa bei Spielkonsolen, Waschmaschinen, Druckern, Laptops, Schuhen, Kleidern, WLAN-Routern, Kühlschränken oder Rasenmähern. Sogar beim Sexspielzeug stottert der Nachschub. Wer heute in der Schweiz ein massgefertigtes Velo bestellt, wartet laut dem Portal watson.ch unter Umständen zwei Jahre auf die Auslieferung. Ähnlich geduldig müssen sich Autokäufer zeigen. Wer einen Audi e-Tron GT oder gar die RS-Version bestellt, dreht 15 Monate lang statt Runden Däumchen. Auch bei Mercedes dauert es 10 Monate, bis ein bestellter EQC ausgeliefert wird. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von Produktionsdrosselungen und Transportproblemen in Asien wegen Corona-Massnahmen, krisenbedingten Konsumschwankungen und Mangel an Halbleitern für die Autoindustrie bis hin zu Stromrationierung in China, weil die Kohle im Land knapp wird. (watson.ch)
Der politische Gegner wittert bereits Morgenluft. Republikaner in Washington werfen Biden vor, er wolle «Weihnachten stehlen» – was auch immer dies heissen mag. Ähnliche Töne schlagen die Kommentatoren auf dem Nachrichtensender Fox News Channel an. Sie weisen Stunde für Stunde auf die bisweilen massiven Preissteigerungen in den vergangenen Monaten hin. Teurer wurden unter anderem Nahrungsmittel wie Fleisch oder Eier. Auch zahlen die Amerikanerinnen und Amerikaner deutlich mehr fürs Benzin. (Im Vergleich zur Schweiz ist der Liter Normalbenzin mit 80 Rappen aber immer noch sehr billig.)
This is the guys who is trying to steal Christmas.
— House Republicans (@HouseGOP) October 13, 2021
Americans are NOT going to let that happen. pic.twitter.com/frwWmchkVC
Natürlich hat die Regierung Biden kein Interesse daran, dass diese Missstände noch monatelang anhalten. Der Präsident kündigte deshalb an, dass künftig auch im Port of Los Angeles 24 Stunden pro Tag und sieben Tage pro Woche gearbeitet werde. Auch versprach Biden, den amerikanischen Transportfirmen entgegenzukommen, die für die Verteilung der importierten Güter im Landesinnern zuständig sind.
Allein: Letztlich handelt es sich dabei nur um Plästerchenpolitik. Längerfristig liessen sich die Lieferketten-Probleme nur mittels Investitionen in die Infrastruktur des Landes und in die Ausbildung der «Arbeitskräfte der nächsten Generation» lösen, sagt Nick Vyas, der am Randall R. Kendrick Global Supply Chain Institute der USC Marshall in Los Angeles forscht.
Das dauert seine Zeit. Also bleibt der Regierung Biden aktuell nicht viel anderes übrig, als der verunsicherten Bevölkerung gut zuzureden. So sagte Finanzministerin Janet Yellen kürzlich: «Für Konsumentinnen und Konsumenten gibt es keinen Grund, in Panik auszubrechen.»