Seine Amtsführung spaltete die Geister. In Erinnerung bleibt Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., als bedeutender Theologe der Gegenwart. Und dies mit Berührungspunkten bis in die Innerschweiz.
Mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI. ist eine prägende Figur des Katholizismus im 20. Jahrhundert verstorben. Während fast eines Jahrhunderts hat er die Geschichte der Kirche – wie auch das schwere Leid seiner deutschen Heimat – miterlebt und begleitet. In Bayern 1927 als Joseph Ratzinger geboren und aufgewachsen, trug er als Jugendlicher schwer an der Herrschaft des Nationalsozialismus. Dieser Gegensatz festigte in ihm die Berufung zum Priester. 1951 wurde er schliesslich gemeinsam mit seinem Bruder Georg Ratzinger (1924–2020) geweiht.
Stärker als die praktische Seelsorge entsprach die Wissenschaft seinen Neigungen. Früh wirkte er bereits als Professor für Dogmatik. Zunächst ab 1958 in Freising und Bonn, ab 1963 in Münster. Rasch machte sein Name bei den Studenten die Runde. Fast etwas scheu trat er ihnen gegenüber. Doch seine empathische, verständnisvolle Art, gepaart mit didaktischem Geschick und verständlichen Erklärungen für komplizierte Fragen begeisterte.
Eine besondere Bekanntschaft verband dabei den späteren Papst mit dem späteren Papst-Kritiker Hans Küng (1928–2021) aus Sursee. Beide waren bereits im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils als «Nachwuchstheologen» aufgefallen, die wichtige Impulse einbringen konnten. Entsprechend waren sie als Konzilstheologen (Peritus) ernannt worden. Auf Empfehlung Küngs wurde Ratzinger 1966 nach Tübingen berufen. Eine Freundschaft verband damals diese beiden Theologen, deren Lebensweg sich später diametral trennen sollte. Legendär waren ihre Verkehrsmittel: Während Ratzinger mit dem Velo an die Universität radelte, fuhr Küng mit seinem Alfa Romeo vor. Bei Regenwetter holte Letzterer dann seinen Kollegen freundlicherweise ab, um ihn trocken zu den Vorlesungen zu bringen. Wissenschaftlich stärker prägend wurde aber für ihn der Luzerner Hans Urs von Balthasar (1905–1988), mit dem Joseph Ratzinger zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Als Balthasar starb, reiste er eigens nach Luzern, um dort am 1. Juli 1988 in der Hofkirche den Beerdigungsgottesdienst zu zelebrieren.
Theologisch setzte Joseph Ratzinger in der Zeit während und vor allem nach dem Konzil wichtige Schwerpunkte. Bestimmend war für ihn insbesondere der Gedanke der Kontinuität. Damit kam der Entfaltung des Glaubens im Laufe der 2000-jährigen Geschichte der Kirche eine wichtige Rolle in seinem wissenschaftlichen Werk zu. Entsprechend lehnte er einen einseitigen «Biblizismus» ab, der eine vollständig entwickelte Glaubenslehre alleine in der Bibel sucht. Vielmehr entfalte sich diese im Laufe der Zeit. In einem Brief an den Verfasser fasste er dies 2017 wie folgt zusammen: «Dass eine Glaubenslehre nicht schon in der Bibel fertig fixiert stehen muss, sondern – freilich auf der Grundlage der Heiligen Schrift – erst allmählich sich entfaltet, ist eigentlich schon seit der späten Väterzeit (Vinzenz von Lérins) unbestrittene Einsicht in der Kirche, die Kardinal Newman in seiner Lehre vom Development in eine definitive Form gebracht hat.»
In der Zeit nach dem Konzil verengte Joseph Ratzinger damit seinen Blick nicht ausschliesslich auf den «Aufbruch», sondern versuchte der Entwicklung der Kirche im Laufe zweier Jahrtausende gerecht zu werden. Kein Wunder, dass er auch bewusst interdisziplinär arbeitete und Erkenntnisse etwa aus der Archäologie, Ethnologie, Geschichte oder Rechtsphilosophie beizog. Entsprechend schätzte und zitierte er die Werke des Engelberger Paters Basil Studer (1925–2008), der sich als Kenner der Werke der Kirchenväter (Patristik) einen Namen gemacht hatte.
Diese Verankerung in der Tradition schlug zugleich auch eine Brücke für den Volksglauben. Gerade in den turbulenten 1970er-Jahren, als in der Zeit nach dem Konzil viele lokale Bräuche und Ausprägungen der Volksfrömmigkeit belächelt oder gar abgeschafft wurden. Er hatte Verständnis für die gewachsenen Glaubensvorstellungen im ländlichen Raum oder generell für dessen regionale Ausprägungen. Sei es für die Arme-Seelen-Frömmigkeit im Alpenraum oder spezielle Kulte in Südamerika, die offensichtlich Elemente vorchristlicher Andenkulturen aufnahmen.
Für ihn bot die katholische Kirche eine Vielfalt gewachsener Traditionen und Formen dar, die zu respektieren sind. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund bemühte er sich als Papst um eine Annäherung an die orthodoxen Kirchen des Ostens. Im erwähnten Brief schloss er entsprechend: «Dass in dem letzten Punkt (Fürbitten) mit den Ostkirchen Übereinstimmung besteht, ist wichtiger als die Nichtübereinstimmung in den übrigen Aspekten der (Fegefeuer-)Lehre.»
Möge dieser Aufbruch zur Ökumene Richtung Osten auch in der künftigen Forschung Früchte tragen.
Der Obwaldner Mike Bacher ist ein Kenner des verstorbenen Papstes. Der Text basiert auf einem wissenschaftlichen Briefwechsel, den Mike Bacher vor fünf Jahren mit Papst Benedikt XVI. führen durfte.