Gedanken zum Flüchtlingstag
Am 16. Juni war Flüchtlingstag, und das bedeutet für mich: Das war mein Tag, an dem ich mich unter euch wohlfühlen darf, weil ich aus meinem Land flüchten musste. Allerdings fühle ich mich auch ein wenig fehl am Platz, weil ich weder in meinem Heimatland leben kann noch in die Schweiz gehöre.
Einerseits ist dieser Tag für mich sehr wichtig, da er mir Identität gibt. Aber andererseits erscheint mir das Wort «Flucht» auch wie ein Albtraum. Er erinnert mich an meine Flucht, an den Tod und mein Überleben, an das Getrenntsein von der Familie und das Entferntsein vom Mutterland.
Der Flüchtlingstag erinnert mich an all die Situationen in meinem Leben, wo ich ungerecht und grausam behandelt wurde. Immigrant zu sein macht dich haltlos, weil du nicht mehr die Wurzel hast, die dich stabil und fest halten.
Der Flüchtlingstag erinnert mich daran, dass ich zunächst in meinem Nachbarland Zuflucht finden konnte, weil in meinem eigenen Land Krieg war und leider bis heute noch ist. Warum es diesen Krieg gibt, ist immer noch eine grosse Frage für mich. Ich weiss nur, dass die Leute von meinem Volksstamm jahrelang getötet wurden, nur deshalb, weil wir zur Schule gingen und studierten.
Die Taliban dachten, dass sie uns die Schule verleiden könnten. Nein! Jedes Mal, wenn wir nach einem Selbstmordattentat voller Motivation wieder aufstanden, gingen wir zurück und begannen den Unterricht von neuem, weil meine Generation glaubt, dass Bildung die einzige Lösung aus diesem Krieg ist. Für die Regierung der Taliban sind Bildung und Wissen ein Verbrechen. Daher müssen Menschen sterben – wie vor ein paar Wochen, als rund 300 Schülerinnen und Schüler in Kabul und Mazar i Sharif getötet wurden.
Ich weiss wirklich nicht, warum es diesen Krieg gibt. Das Einzige, was ich noch weiss, ist: Ich bin ein Überlebender eines Krieges, den ich nie gewollt oder begonnen habe. Ein Krieg, in den weder ich noch meine Eltern noch meine Grosseltern verwickelt waren. Aber den Preis für diesen Krieg bezahlen ich und meine Generation mit unserem Leben. Die Narben in unserem Gesicht und unserem Herzen sind schmerzhaft und immer wieder spürbar.
Um mich zu retten, flüchtete ich in mein Nachbarland. Zum Glück musste ich nicht lange bleiben, denn ich habe dort allerhand Demütigungen und Beleidigungen erlebt. Einmal verhaftete die Polizei mich und meinen Freund, und sie kettete unsere Beine wie bei gefährlichen Verbrechern an. Aus dem einzigen Grund: weil wir Afghanen sind.
Da schwor ich mir, dass für mich die Würde eines jeden Menschen immer wichtiger sein wird als Ansehen, Macht und Vermögen. Denn mir widerfuhr diese ungerechte Behandlung, obwohl wir und unsere Nachbarn doch die gleiche Kultur, Religion, den gleichen Gott und dieselbe Sprache haben!
Ich bin sehr enttäuscht von den Hütern der Menschenrechte und der internationalen Gemeinschaft, wie sie reagiert haben, als unsere Schwestern und Mütter in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban im letzten Sommer zu Hause eingesperrt und ihres Rechts auf Arbeit und Bildung beraubt wurden. Die internationale Gemeinschaft verschliesst ihre Ohren und ihre Augen.
Zum Schluss noch ein offenes Wort zur aktuellen Flüchtlingssituation: Zusammengefasst, mein Vertrauen in die Gleichbehandlung Geflüchteter wurde sehr getrübt, als ich die Erfahrung machen musste, dass auf der einen Seite viele Flüchtlinge jahrelang nicht reisen durften wegen ihrer vorläufigen Aufenthaltsbewilligung, und auf der anderen Seite neu eintreffende Flüchtlinge schon in der ersten Woche das Aufenthaltsrecht und eine Arbeitserlaubnis bekamen und ihre Familien sofort nachholen dürfen.
Meine Hoffnung bleibt, dass die Gleichberechtigung am Ende doch noch siegt.
Abdullah Moradi, Cham